Die Dreiviertelkratie
Wer im Besitz des Schweizer Passes ist, geniesst politische Mitbestimmungsrechte wie kaum wo auf der Welt. Doch nur drei von vier Menschen im Land haben ihn. Anders gesagt: 25% der Menschen, die in der Schweiz leben und Steuern zahlen, sind politisch auf stumm geschaltet. Forscher warnen vor einem Demokratiedefizit.
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Politische Inklusion ist alles andere als ein Käse. In internationalen Demokratievergleichen ist es auch die mangelnde Integration, die der Schweiz jeweils den absoluten Spitzenplatz kostet.
Würde man politische Integration als Käse darstellen, dann wäre Schweden der löchrige Emmentaler. Dies, weil das skandinavische Land ein besonders durchlässiges System der Integration kennt. Dänen, Finninnen, Isländer und Norwegerinnen können schon nach zwei Jahren die schwedische Staatbürgerschaft beantragen. Andere müssen sich maximal fünf Jahre gedulden.
Die Schweiz, die Erfinderin des Emmentaler Käses, wäre in diesem Vergleich ein pickelharter Parmesan. Denn Ausländerinnen und Ausländer, die sich in der Schweiz politisch integrieren möchten und die nicht zur sportlichen Weltklasse zählen – für Spitzensportler sind beschleunigte Verfahren möglich – müssen sich hintenanstellen. Einer Einbürgerung sehr förderlich ist ebenfalls ein mindestens siebenstelliger Kontostand.
Ohne roten Pass keine politische Mitsprache
Die im internationalen Vergleich sehr strenge Integrationspolitik mit ihren unzähligen und sehr hohen Hürden hat den Effekt, dass es einen beträchtlichen Anteil an Ausländern gibt, die zwar schon lange in der Schweiz leben, aber auf den Erwerb der Schweizer Staatsbürgerschaft und damit auf das Ticket für die politische Mitbestimmung verzichten.
Inzwischen hat jeder vierte in der Schweiz wohnhafte Erwachsene aus diversen Gründen keinen roten Pass und damit meistens keine oder höchstens minimale politische Rechte.
Ein Land, 26 unterschiedliche Regimes
Tatsächlich gibt es in der Schweiz teils starke regionale Unterschiede, was die Inklusion der ausländischen Wohnbevölkerung betrifft. Es herrscht ganz im Sinne des Föderalismus eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Integrationsregimes.
Das von der Universität Neuenburg lancierte Forschungsprojekt nccr ð on the move Externer Linkhat diese kantonalen Unterschiede in einem schweizweiten Vergleich detailliert untersucht. Dabei verglichen die Forschenden auf der Grundlage eines auf mehreren Faktoren basierenden Indexes neben den Einbürgerungsregimes auch die politischen Mitspracherechte von Ausländern sowie jene von Auslandschweizern.
Westschweiz als liberaler Hort
Hinsichtlich der Einbürgerungspraxis gibt es grosse Unterschiede zwischen den ländlich geprägten Kantonen der Deutschschweiz und Tessin einerseits und den städtisch-protestantisch geprägten Kantonen der Nord- und Westschweiz andererseits.
Ein noch klareres Muster präsentiert sich beim Vergleich der politischen Mitwirkungsmöglichkeiten von Ausländern. Vergleichsweise liberal sind die französischsprachigen Kantone, allen voran Neuenburg.
Ansonsten sehen nur noch Basel-Stadt, Graubünden und Appenzell-Ausserrhoden Mitspracherechte für Ausländer vor. Alle anderen Kantone wollten von Ausländerstimmrechten bislang nichts wissen.
Wohlverstanden: Wir reden hier über politische Mitsprache auf Ebene der Kantone. Auf nationaler Ebene kann wie erwähnt nur mittun, wer über den roten Pass verfügt.
Schweiz und Schweden, eben doch nicht dasselbe Land
Tatsächlich aber wiedergibt die obige Grafik nur die halbe Wahrheit. Die Theorie ist das eine: Das abstrakte Recht auf Mitbestimmung. Doch ob die Menschen tatsächlich auch von diesem Recht Gebrauch machen, steht auf einem anderen Blatt.
Ein an der Universität Luzern entwickelter Index vergleicht die verschiedenen europäischen Demokratien und berücksichtigt dabei auch die tatsächliche Inklusion der Zugewanderten. Europameister in Sachen Ausländerinklusion ist –
nicht überraschend – Schweden. Die Schweiz findet sich am anderen Ende der Rangliste wieder, knapp hinter Zypern auf dem letzten Platz.
Schweiz als republikanische Insel im Herzen Europas
Natürlich ist das kein Zufall. Die notorisch strenge Ausländerpolitik der Schweiz erklärt sich zu einem grossen Teil aus der Geschichte und dem Staatsverständnis. Die Schweiz ist eine Republik und unter allen Republiken wahrscheinlich die republikanischste. Ein Wesensmerkmal des Republikanismus ist klare Eingrenzung des Volks.
Dauerbrenner Ausländerstimmrecht
Das Ausländerstimmrecht zählt in der Abstimmungsdemokratie Schweiz zu den politischen Dauerbrennern. Auf nationaler Ebene ist es chancenlos. Dynamik aber besteht in den Kantonen. Die jüngsten Kapitel:
2014 verwarfen die Stimmbürger im Kanton Schaffhausen das Ansinnen mit 85% überdeutlich. 2015 brach überraschenderweise die liberale Denkfabrik Avenir Suisse eine Lanze für das «passive Wahlrecht für aktive Ausländer» auf lokaler Ebene. Auch in Bern wurde im Kantonsparlament ein Vorstoss mit ähnlicher Stossrichtung lanciert, doch man krebste wieder zurück. Im Kanton Solothurn ist das Ausländerstimmrecht wieder auf der politischen Agenda. Nachdem das Kantonsparlament im vergangenen Jahr die Erweiterung ablehnte, hat nun ein Verbund linker Jungparteien die Initiative für einen erneuten Versuch ergriffen.
Es ist klar definiert, wer dazu gehört und wer nicht. Und gehört man dazu, geniesst man als souveräner Bürger weitgehende politische Entscheidungs- und Mitwirkungsrechte.
Der republikanische Bürger ist also mehr als ein Staatsbürger – er ist selbst ein Teil des Staats: Beherrschter und Mitherrschender in einem. Dieses exklusive, ja hegemoniale Bürgerrechtsverständnis erklärt im Übrigen auch die vergleichsweise späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz im Jahr 1971. Davor hatten die bürgerlichen Männer gefunden, dass die Frauen nicht «dazugehören» sollen.
Steuern ja, Mitbestimmung nein
Doch das alles hat auch seine Kehrseite. Denn diejenigen, die nicht zum Volk gehören, haben wenig, ja in den allermeisten Orten der Schweiz politisch gar nichts zu melden. Man zahlt zwar Steuern wie der Schweizer Nachbar.
Wenn es aber um die Regelung öffentlicher Angelegenheiten geht, wird man nicht um die Meinung gefragt. Daraus ergibt sich ein demokratisches Defizit. Denn ein liberalstaatlicher Grundsatz besagt, dass wer Steuern entrichtet und sich den Gesetzen des Staats unterwirft, auch Anspruch auf politische Mitbestimmung hat.
Nimmt man das Frauenstimmrecht als Indikator für das weitere Liberalisierungs-Tempo der Schweiz, dann werden fliegende Autos, Sommerferien auf dem Mars und In-Vitro-Schnitzel dem Ausländerstimmrecht auf nationaler Ebene zuvorkommen.
Eines ist klar: Wenn man das Frauenstimmrecht als Indikator für das weitere Liberalisierungs-Tempo der Schweiz nimmt – die Frauen mussten 123 Jahre auf ihr Stimmrecht warten – dann werden wohl fliegende Autos, Sommerferien auf dem Mars und In-Vitro-Schnitzel dem Ausländerstimmrecht auf nationaler Ebene noch zuvorkommen. Falls dieses denn überhaupt jemals die Schwelle zur Mehrheitsfähigkeit überschreiten sollte.
Ein wahrscheinlicheres Szenario als die Entkoppelung von Bürgerrecht und politischen Rechten ist eine weniger restriktive Vergabe des roten Passes. Aber auch da ist mit vehementem Widerstand zu rechnen.
Der erste und letzte, der versucht hat, die Schweiz in ein liberales Korsett zu zwängen, war niemand Geringeres als Napoleon Bonaparte. Aber selbst der grösste Herrscher Europas musste kapitulieren.
In seiner Verzweiflung soll er gesagt haben: «Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren.»
Serie «Dunkelkammer der Demokratie»
Die Schweiz ist internationaler Spitzenreiter, was die Anzahl nationaler Abstimmungen betrifft. Aber auch angesichts des «Weltrekords» von über 620 Urnengängen (Stand 2017) ist die Musterdemokratie Schweiz nicht perfekt.
In der Serie wirft Sandro Lüscher einen kritischen Blick auf deren Problemzonen. Der Autor studiert Politikwissenschaften an der Universität Zürich und betreibt einen Blog zum politischen Geschehen in der SchweizExterner Link. Aktuell forscht er als Assistent an der Uni St. Gallen über kantonale Wahlsysteme.
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