Basisdemokratie in Spiez oder «Achtung Baustelle»
In der Zeit, in der ich auf ein paar neue, farbige Markierungslinien auf der Hauptstrasse durch meinen Wohnort und auf breitere Trottoirs warte, hat China sein Strassennetz um 80’000 Kilometer erweitert.
Ich weiss, der Vergleich ist unfair. Mit einer immer noch starken Wirtschaft, einer gigantischen Arbeitskraft und enormen Einnahmen ist die Regierung in Peking auf der Überholspur, was den Bau von Infrastruktur betrifft.
Im Gegensatz dazu hat Spiez, rund eine halbe Stunde von Bern am Thunersee im Berner Oberland gelegen, alles, was das westeuropäische Herz an moderner Infrastruktur begehrt: Schulen, Einkaufsläden, Strassen, Zugverbindungen und drei nahegelegene Spitäler.
Das Ziel der Stadt ist es, ihren 12’000 Einwohnern einen attraktiven Wohn- und Lebensort zu bieten. Dafür ist von Zeit zu Zeit ein kleines Update nötig.
Das kann aber ein sehr langer Prozess sein, insbesondere, wenn alle eingeladen sind mitzureden.
Macht teilen
Eine Studie des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA)Externer Link zeigt, dass die Behörden von immer mehr Städten in der Deutschschweiz Macht an ihre Bürgerinnen und Bürger abgeben, wenn auch nur informell.
So soll Demokratie funktionieren, sollte man meinen. Nur: In Spiez warten wir immer noch auf den ersten Pinselstrich auf dem Asphalt – acht Jahre, nachdem meine Stadtbehörde beschlossen hatte, etwas zu tun, um die Hauptverkehrsader attraktiver zu gestalten.
Ist das das Resultat eines demokratischen Prozesses, muss ich es wohl akzeptieren, oder? Im Prinzip ja. Die Aarauer Forscher kamen zu einem ernüchternden, wenn auch nicht überraschenden Fazit: Einer Einladung zur Mitwirkung folgen in den meisten Fällen weniger als 100 Bürger. In Spiez waren es gerade Mal 66. Von 12’000.
Die 66
Von diesen war die grosse Mehrheit für die Planvariante «Let’s Swing». Sie sah die Verbreiterung der Gehsteige vor, die Säumung der Strasse mit Bäumen, die Aufhebung von Lichtampeln und – als Knacknuss – die Markierung der Strassenmitte mit sehr breiten, gelben Streifen. Dies als Zeichen für eine langsam zu befahrende Fussgängerzone, wo die Menschen überall die Strasse überqueren können.
Bevor die Pläne der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, hatte eine Jury das siegreiche Projekt erkoren. Im Gremium waren nicht weniger als 25 lokale Interessengruppen und Lobbys vertreten.
Auf dem Papier tönt der partizipative Prozess wunderbar. In Spiez kam das so genannte Berner ModellExterner Link zum Zug. Es beruht auf der Idee, möglichst viele Interessierte einzubinden. Der Kanton Bern, zu dem Spiez gehört, sieht dies als einzigen Weg zu nachhaltigen Lösungen an, wenn es um die Modernisierung von Ortsdurchfahrten geht.
Spiez aber ist ein Beispiel dafür, dass einige Wenige den Plan zu ihren Gunsten kehren können. Es dauerte allein drei Jahre, bis die Verkehrsplaner die Inputs der 66 Bürger gesichtet, bewertet und mit jedem individuell besprochen hatten. Nach Einholung der Positionen aller Departemente der Stadtverwaltung wurde der Plan 2012 vorgestellt.
15 Personen, darunter einige Ladenbesitzer, machten von ihrem Recht zur Einsprache Gebrauch. Sie regten sich auf, weil 16 von insgesamt 37 Parkplätzen verschwinden würden.
An der Wurzel des Problems
Stadtpräsident Franz Arnold verschaffte Anfang Jahr seinem Ärger Luft und sagte, dass die Verbesserungen umgesetzt werden sollten, seien sie doch in einem «sehr verständlichen, basisdemokratischen Entscheid» beschlossen worden.
Genau hier liegt das Problem. Zwar können Gegner immer Rechtsmittel ergreifen, um Projekte zu verzögern oder zu stoppen, sofern sie das Gefühl haben, dass diese ihre Interessen verletzten. Aber warum wird jedermann eingeladen, seine Meinung zu äussern?
Mitwirkung, Akzeptanz, Verzögerung
Über die Einsprachen gegen das Spiezer Projekt zur Verkehrsberuhigung entscheidet demnächst die Regierung des Kantons Bern. Werden die Einsprachen abgewiesen, können die Urheber alle Instanzen anrufen, inklusive Bundesgericht. Trifft dies ein, würde die Realisierung von «Let’s Swing» um weitere Jahre verzögert.
Der Kanton ist verantwortlich für ein Strassennetz von 2000 Kilometern Länge. Dazu gehört auch die Ortsdurchfahrt Spiez.
Aus- und Umbauten müssen zwingend nach dem «Berner Modell» erfolgen. Dessen Ziel ist die Reduktion des Verkehrs und der aktive Einbezug von Bürgern in die Planung.
Die Studie des ZDA basiert auf über 300 Fällen zwischen 2000 und 2013, wo die Bürger auf lokaler Ebene mittels partizipativer Demokratie in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden
In ihrer Studie über neue Formen der Bürgerbeteiligung versuchen die Aarauer Forscher, diese Frage zu beantworten. Ihr Fazit: In Städten, in denen sich mehrere Parteien die Macht teilen, ist das Interesse zum Einbezug der Bürger grösser. Dies gilt ebenfalls für Gemeinden mit einer grösseren und professionelleren Verwaltung sowie für Orte, zu denen die Einwohner einen engen Bezug haben, weil sie dort leben und arbeiten.
Im benachbarten Thun ging die Stadtregierung einen anderen Weg: Sie schuf in der Innenstadt eine beruhigte, gemischte Zone sowohl für den motorisierten Verkehr als auch für die Fussgänger. Weil die Strasse nicht kantonalem Recht unterstellt ist, konnten die Behörden ein langwieriges Anhörungsverfahren vermeiden.
Die Fussgängerstreifen wurden entfernt und stattdessen blaue Wellen aufgetragen, welche die geschäftige Hauptachse herunterrollen. Der ganze Prozess dauerte ein Jahr. Die Auswirkungen sind spürbar, wie aus einer Studie hervorgeht: Der Thuner Verkehr fliesst ungehindert, und die Fussgänger können überall über die Strasse. Und das mit mehr Sicherheit.
Fortschritte also, obwohl nicht in chinesischen Dimensionen. Aber dafür dank demokratisch gewählten Behördenvertretern.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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