Ein Schweizer Unternehmer in Almaty: Max Schneebergers kulturelle Mission
Ein gelernter Elektriker aus dem Zürcher Oberland macht nach seiner Frühpensionierung Karriere in Zentralasien – und verleiht seiner Wahlheimat Kasachstan indirekt demokratische Impulse.
«Hier hat sich in den letzten 25 Jahren äusserlich nur wenig verändert», sagt Max Schneeberger. Wir fahren auf einer mit Schlaglöchern übersäten Asphaltstrasse in einem Aussenquartier von Almaty. Über der Strasse hängt ein Salat aus Strom- und Telefonleitungen.
Trotz Parkverbot sind viele Autos abgestellt. «Hoffentlich steht heute kein Wagen vor meiner Bude», sagt Schneeberger kurz vor seinem Haus.
Heute hat Schneeberger Glück: Kein Fahrzeug versperrt die Zufahrt zu seiner «Bude». Max Schneeberger lebt seit einem Vierteljahrhundert in Almaty, der mit gut zwei Millionen Einwohner:innen grössten Stadt Kasachstans.
An seine Ankunft in Kasachstan könne er sich gut erinnern. «Ich landete hier Mitte Mai und hatte den Auftrag meiner Firma, innerhalb weniger Monaten ein Vertriebsnetz aufzubauen und dann weiterzuziehen.» So war das Leben des gelernten Elektrikers aus Uster ausserhalb von Zürich: Für ein schweizerisch-amerikanisches Pharmaunternehmen erschloss Schneeberger über Jahre neue Märkte, rekrutierte örtliche Manager und zog dann in ein neues und für ihn unbekanntes Land weiter. Zuhause in der Schweiz lebten seine Frau und Kinder.
Doch dann veränderte sich für ihn alles: «Ich war damals gerade fünfzig Jahre alt geworden und frisch geschieden, mir gefiel es hier und ich fand die Menschen sehr freundlich und interessant.» Statt einfach weiterzuziehen, liess sich Schneeberger frühpensionieren und investierte sein bescheidenes Vermögen in eine eigene Firma in Kasachstan, die sich auf die Ausrüstung medizinischer Labors spezialisierte.
Die erste Mitarbeiterin, die Schneeberger rekrutierte, war eine Augenärztin und alleinstehende Mutter aus der kasachischen Provinz: Zaure Ismagulova. «Sie beindruckte und überzeugte mich gleich mehrfach», erzählt Max Schneeberger. Bald schon läuteten für das ungleiche Paar die Hochzeitsglocken.
Die Vermählten erwartete viel harte Arbeit. «Heute beschäftigten wir mit unserer Firma hier in Almaty sechzig Mitarbeitende und machen gutes Geld», sagt Ismagulova beim Gespräch in der von ihr aufgebauten Aizakhan-Galerie im Herzen von Almaty. Hier stellt sie im Rahmen einer von ihr und ihrem Mann gegründeten Stiftung die Kunstwerke kasachischer Kunstschaffenden aus, «die erst noch entdeckt werden müssen und es schwer haben, von ihrer Arbeit zu leben», sagt die 58-jährige Ismagulova.
In einer Serie von Artikeln besucht der SWI Global Democracy Correspondent Schweizerinnen und Schweizer im Ausland, die mit ihrem Blick und ihrem aktiven gesellschaftlichen oder politischen Wirken zu einer Brücke zwischen der alten und neuen Heimat werden – an Orten, die nicht im medialen Schweinwerferlicht stehen und demokratiepolitisch vor wichtigen Weichenstellungen stehen.
Kasachstan ist mit einer Fläche von 2,7 Millionen Quadratkilometern nicht nur das neuntgrösste Land und der grösste Binnenstaat der Welt, sondern auch die wichtigste Volkswirtschaft Zentralasiens. Das Land ist reich an Rohstoffen – unter anderem Öl und Gas, aber auch dank grosser Vorkommen wichtiger Metalle – und verfügt über eine starke Landwirtschaft.
Als nicht-kasachischer Staatsbürger aus der Schweiz (das zentralasiatische Land lässt keine Doppelbürger zu) hält sich Max Schneeberger bei politischen Themen bewusst zurück: Vielmehr möchte er mit seinem Wirken dazu beitragen, dass sich junge Kasachinnen und Kasachen zu eigenverantwortlichen und politisch emanzipierten Bürger:innen entwickeln können.
Als einziger permanent im Land lebender Schweizer wird er regelmässig zu Anlässen der Schweizer Botschaft eingeladen: «Und dort treffe ich dann auf Politikerdelegationen aus der Schweiz und Vertreterinnen und Vertreter der hiesigen Zivilgesellschaft», sagt Schneeberger. Etwa auf Yevgeniy Zhovtis, den Direktor des «Büro für Menschenrechte und Rechtsstaat», eine unabhängige Nichtregierungsorganisation in Almaty.
Kasachstan stecke noch immer in einem postsowjetischen Zeitalter fest, betont Zhovtis: «Wir sind weder eine moderne Demokratie noch eine totalitäre Diktatur, sondern haben ein Regime, dass oft recht geschickt zwischen den verschiedenen Seiten zu navigieren weiss.» Dazu gehört, wie Kasachstan mit Russland und China umgeht, seinen grossen Nachbarn im Norden und Osten, und gleichzeitig enge Beziehungen zum Westen betreibt. Dazu gehören auch die Verbindungen zur Schweiz, die wie sovieles im heutigen Kasachstan eine Gratwanderung darstellen – für beide Seiten.
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Dabei scheut die von internationalen Demokratie-Ranking Instituten wie Freedom House Externer Link als «unfrei», «autoritär» und «korrupt» beschriebene Regierung keine Mühen, sich ein «demokratisches Mäntelchen umzuhängen», wie es Yevgeniy Zhovtis umschreibt. So war die Stimmbevölkerung am 6. Oktober dieses Jahres aufgerufen, darüber abzustimmen, ob das Land ein erstes Kernkraftwerk bauen soll. «Ich stimmte nein», sagt Schneebergers Frau Zaure Ismagulova, weil die Regierung nicht habe plausibel erklären können, weshalb es diesen Atomstrom brauche. «Die meisten hier in Almaty aber beteiligten sich schon gar nicht an diesem Plebiszit», erklärt sie.
Ex-Diplomatin: «Unüberprüfbare Abstimmungsergebnisse»
Die von Präsident Kassim-Jomart Tokayev eingebrachte AKW-Vorlage soll gemäss Behörden von 71% angenommen worden sein. Viele Kasach:innen zweifeln die Korrektheit dieses Ergebnisses an, so auch die Ex-Diplomatin Zhanar Kulzhanova: «Das kann jedoch niemand überprüfen und glaubt auch eigentlich niemand.» Während unabhängige Beobachter:innen aus dem In- und Ausland von Unregelmässigkeiten, Missachtung grundlegender Bestimmungen und EinschüchterungsversuchenExterner Link durch die Behörden berichteten, verwiesen Staatsstellen auf positive Einschätzungen befreundeter BeobachterdelegationenExterner Link der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Schanghai Kooperation (SCO) und Organisation Türkischer Staaten (OTS). Professionelle Beobachterdelegationen der OSZE oder der EU waren nicht zugelassen.
Kulzhanova ist der Meinung, dass die kasachische Regierung mit der AKW-Abstimmung ein Zeichen gegenüber Moskau setzen wollte. Denn das Kernkraftwerk würde laut Kulzhanova von einem staatlichen russischen Unternehmen gebaut.
Kulzhanova erlebt das Vertrauen der Kasach:innen in Wahlen und Abstimmungen als «sehr, sehr bescheiden», aber sieht eine Zunahme von sozialen und ökologischen Anliegen in der jungen Bevölkerung. Diesem Engagement begegnen die Behörden nicht einfach mit Schweigen oder Repression, sondern haben unlängst eine Plattform für Online-Petitionen aufgeschaltet, auf der öffentlich Kritik an den Behörden geäussert werden kann. Thematisiert werden hier zum Beispiel der Schutz der Taldykol-Seen in der Hauptstadt Astana, gut tausend Kilometer nördlich von Almaty.
Erst seit 25 Jahren ist Astana die Hauptstadt von Kasachstan, das sich 1991 für unabhängig erklärt hatte. Mitten in der braunen Steppe im Norden des Landes entstand in kurzer Zeit eine moderne Millionenmetropole mit Wolkenkratzern und Regierungsquartieren. In den letzten fünf Jahren wurde beim Ausbau der Stadt das gesetzlich geschützte Taldykol-Seensystem massiv beeinträchtigt.
«Illegale Bauaktivitäten haben dazu geführt, dass sechs der sieben Seen durch den Zufluss von Abwasser und die Ablagerung von Abfällen für immer zerstört worden sind», erklärt die Aktivistin Adina Tulegenova von der NGO «SOS Taldykol» bei einem Rundgang in der Hauptstadt.
Im letzten noch weitgehend intakten See leben laut der Organisation mehrere Dutzend verschiedene Vogelarten. Doch bereits haben Baufirmen eine provisorische Strasse in den See gebaut. Bei kasachischen Gerichten sind dagegen derzeit mehrere Klagen hängig. Und laut Zhanar Kulzhanova, welche «SOS Taldykol» mitbegründet hat, wird nun eine Klage gegen den kasachischen Staat beim UNO Menschenrechtsgerichtshof in Genf vorbereitet. Die Bauarbeiten gehen derweil weiter.
Die Medizinal-Firma gehört immer noch Schneeberger und Ismagulova. Aber das Unternehmen wird mittlerweile von anderen geführt, so dass sich das schweizerisch-kasachische Paar nun vermehrt auf eigene Projekte konzentrieren kann, mit denen «wir diesem Land und dieser Gesellschaft, die uns so viel ermöglichten, etwas zurückgeben können.» Neben der Förderung kasachischer Kulturschaffender baut das Paar nun einen Treffpunkt für Veranstaltungen auf.
Hier verbringt Max Schneeberger nun seine meiste Zeit. «Dieses Grundstück konnten wir günstig kaufen und investieren nun viel Arbeit und Herzblut», betont er beim Rundgang durch den neu angelegten Park mit einem kleinen See, gemütlichen Bänken und einem Klubhaus, in dem bis zu 100 Personen Platz haben. Ende Oktober fand hier eine erste Veranstaltung statt, ein Orchester-Konzert. Künftig sind auch Lesungen und Debatten zu aktuellen Themen angedacht.
Tag für Tag ist der 75-Jährige im Klubhaus-Garten einige Stunden mit Schaufel und Schubkarren damit beschäftigt, eine kleine, grüne und demokratiefreundliche Oase zu schaffen. «Seit ich 15 Jahre alt war und die Elektrikerlehre begann, habe ich immer gearbeitet», erzählt Max Schneeberger, «etwas anderes kenne ich nicht.»
Editiert von Mark Livingston
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