Schweizer Pass: «Die Schweiz ist bei den Einbürgerungen wählerischer geworden»
Das neue Einbürgerungsgesetz helfe Gutgebildeten und Wohlsituierten aus den Nachbarstaaten der Schweiz, sagt Bürgerrechtsforscherin Barbara von Rütte. Ein Interview über Nationalität als Menschenrecht, die regionalen Unterschiede bei Einbürgerungen und absurde Testfragen.
Barbara von Rütte ist Juristin und forscht an der Universität Basel zu Bürgerrecht und Nationalität. Sie beobachtet seit Einführung des neuen Einbürgerungsgesetzes 2018 einen deutlichen Rückgang bei den Einbürgerungen von Menschen, deren Herkunft ausserhalb Westeuropas liegt.
SWI swissinfo.ch: Ist es ein Menschenrecht, eine Nationalität innezuhaben?
Barbara von Rütte: Ob es ein Menschenrecht ist, ist umstritten. Die Erklärung der Menschenrechte sagt: Ja. Aber die Europäische Menschenrechtskonvention sagt dazu nichts. Darum wird oft gesagt, es sei Sache der Politik – kein Recht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederum sagt, ab einem bestimmten Grad der Verwurzelung gibt es ein Recht, dazuzugehören. Ich bin der Meinung, dass es ein Menschenrecht ist, weil die Nationalität so zentrale Aspekte des Lebens einer Person betrifft.
SWI: Die Hürden zur Erlangung des Schweizer Pass gelten als streng. Unter anderem der Business InsiderExterner Link listet die Schweiz unter den «Ländern, wo es am schwierigsten ist, Bürgerin zu werden». Hat die Schweiz die härtesten Hürden der Welt?
BvR: Nein, sicher nicht. Es gibt Länder, in denen faktisch keine Einbürgerungen möglich sind, wie in den arabischen Golfstaaten, wo nur ein Bruchteil der Bevölkerung die Staatsangehörigkeit hat. Aber weil dies ohnehin keine Demokratien sind, ist das vielleicht weniger wichtig.
Sind Volksabstimmungen und Wahlen noch legitim, wenn nur die Hälfte entscheiden kann? In gewissen Stadtkreisen von Zürich sind es 50%, da ist man wieder in ähnlichen Verhältnissen wie vor 1971, als es noch kein Frauenstimmrecht gab. Was wäre, wenn die Ausländer:innen zur Mehrheit werden wie in den arabischen Golfstaaten? Unter den demokratischen Staaten sind die Bedingungen zur Einbürgerung in der Schweiz neben Luxemburg, Liechtenstein und Japan die strengsten.
SWI: Sie sind Wissenschaftlerin, aber unterstützen zum Beispiel die kürzlich lancierte Demokratie-Initiative, die in der Schweiz schnellere Einbürgerungen nach fünf Jahren Aufenthalt ermöglichen will. Wie bringen Sie Engagement und Wissenschaft zusammen?
BvR: Mein Ansatz ist wissenschaftlich. Dass ein Viertel der Schweizer Bevölkerung kein Stimmrecht hat, untergräbt langfristig die Legitimität von politischen Entscheiden – das kann man aus theoretischer Perspektive kritisieren.
Barbara von Rütte ist Teil eines Panels der diesjährigen Aarauer Demokratietage. Die diesjährigen Aarauer Demokratietage vom 14. und 15. März befassen sich mit dem Thema «Föderalismus». Beim Publikumsanlass hält alt-SVP-Bundesrat Ueli Maurer eine Rede zum Fokus Steuerwettbewerb. An der wissenschaftlichen Konferenz befassen sich Panels mit politischer Bildung, Finanzen und Einbürgerungen im Bezug auf Föderalismus. Mehr erfahren Sie hierExterner Link.
SWI: Man kann entgegnen, dass das Schweizer Bürgerrecht ein besonderes Privileg ist, gerade wegen der Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung.
BvR: Das kann man anderswo auch sagen. Es gibt unterschiedliche Theorien dazu, ob Deutschland, das gerade ein progressives Einbürgerungsgesetz einführt, weniger demokratisch ist als die Schweiz. Zudem erlaubt der deutsche Pass das visafreie Reisen in drei Länder mehr als der schweizerische. Das Argument, dass wir höhere Schranken als andere europäische Länder brauchen, überzeugt mich nicht.
SWI: Hängen die hohen Hürden in der Schweiz Ihrer Meinung nach damit zusammen, dass man in der Schweiz in vielen Kantonen an der Gemeindeversammlung über das Bürgerrecht der Einbürgerungswilligen abstimmen darf?
BvR: Das ist keine rechtliche Frage, aber: Ja. Ich glaube, dass es die Vorstellung des Bürgerrechts als Privileg prägt, dass man viel mitbestimmen darf und in vielen Kantonen sogar darüber, wer das Bürgerrecht bekommt. Die Einbürgerung ist ein Verwaltungsakt und kein politischer Akt. Das hat das Bundesgericht 2003 entschieden, aber ebenfalls, dass eine Gemeindeversammlung – die diskutiert, bevor sie abstimmt – einer Behörde gleichgestellt ist.
Es gibt die Vorstellung, dass ein Staat wie ein Club ist, der entscheiden darf: ‘Dich will ich nicht.’ Orientiert man sich an den Menschenrechten, wird der Ausschluss irgendwann illegitim. Ist es legitim, wenn Menschen seit mehreren Generationen ohne Bürgerrecht in der Schweiz leben? Eindeutig illegitim wäre es, wenn ein Staat entscheiden würde, Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder jüdischem Glauben generell nicht einzubürgern.
SWI: Das würde dem Diskriminierungsverbot widersprechen. Doch das macht ja niemand.
BvR: Das macht niemand explizit. Doch das Schweizer Bürgerrecht hat meiner Meinung nach gewisse Mechanismen, die dazu führen, dass es zu Ausschlüssen kommt, die diskriminierend sein können. Zum Beispiel: Wer Sozialhilfe bezieht oder in den letzten Jahren bezogen hat, ist von der Einbürgerung ausgeschlossen. Überproportional viele alleinstehende Frauen beziehen Sozialhilfe. Wenn fast alle alleinstehenden Frauen sich nicht einbürgern lassen können, wird es problematisch.
SWI: Seit 2018 beträgt die erforderliche Aufenthaltsdauer für den Schweizer Pass 10 statt 12 Jahre. Sinken die Einbürgerungshürden also?
BvR: Erste Zahlen zum neuen Einbürgerungsgesetz zeigen, dass die Einbürgerung sehr viel selektiver geworden ist. Überspitzt gesagt werden vor allem gebildete Menschen mit hohem Einkommen aus Nachbarstaaten eingebürgert. Eher nicht mehr: Menschen aus Drittstaaten. Eher nicht mehr: Menschen, die als Flüchtlinge in die Schweiz kamen.
SWI: Wie deutlich ist diese Tendenz der Schweiz, weniger Menschen aus Drittstaaten einzubürgern?
BvR: Man sieht einen klaren Einbruch.
SWI: Woran liegt das?
BvR: Das hängt damit zusammen, dass man neu eine Niederlassungsbewilligung braucht, dass die Schwelle bei den Sprachkenntnissen vereinheitlicht wurde und am bereits erwähnten Sozialhilfekriterium.
SWI: In der Schweiz kommt es in meinem Empfinden oft dort zu Willkür, wo der Föderalismus stark spielt. Zum Beispiel in der Sozialhilfe, wo die Gemeinden bei der Ausgestaltung viel Kompetenzen haben und teilweise Fachkompetenz oder Aufsicht fehlt. Sie sagen, bei den Einbürgerungen führen mehr nationale Regeln zu weniger Fairness?
BvR: Nationale Regelungen machen Prozesse fairer und einheitlicher. Aber je detaillierter man die Regelung ausgestaltet, desto weniger besteht Spielraum für Ermessen und Willkür – im negativen, aber auch im positiven Sinn.
Seit der Totalrevision des Gesetzes 2018 gibt es eine klare Regelung, dass die Einbürgerung erst zu Kanton und Gemeinde geht – und danach zum Bund. Früher war das von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Das ist ein Fortschritt.
Doch die Kriterien beim Sprachniveau und der Integrationsdefinition sind nun so detailliert, dass weniger Ermessenspielraum besteht, zum Beispiel bei der Sprache. Eine Person, die ihr Leben lang auf dem Bau oder in einem Reinigungsdienst gearbeitet hat, kann ein Gespräch führen, aber vielleicht keinen komplexen Text in einer Landessprache schreiben. Diese Person scheitert heute eher am Sprachtest.
Aus demokratischer Perspektive muss man genau hinschauen: Will man nur noch hochqualifizierte Bürger:innen? Was das für eine Gesellschaft bedeutet, wäre eine politische Diskussion, die bisher nicht geführt wird.
Rechtlich gibt es Bereiche, in denen es diskriminierend werden kann: Wenn sich Armutsbetroffene de facto nicht mehr einbürgern lassen können und Personen aus Drittstaaten. Dies sind tendenziell Personen aus dem globalen Süden, das sind tendenziell nicht-christliche Leute mit nicht-weisser Hautfarbe. Bei einer klaren Tendenz ist das diskriminierend.
SWI: Der Erfolg einer Einbürgerung kann in der Schweiz davon abhängen, in welcher Region man lebt. Denn man wird in einer Gemeinde, im Kanton und im Land eingebürgert – das ist die sogenannte Dreistufigkeit. Ist die Schweiz damit eine weltweite Ausnahme?
BvR: Ja. Ein Gemeinde-, Kantons- und Bundesbürgerrecht gibt es in anderen Rechtsordnungen nicht. Zudem können alle Stufen eigene Voraussetzungen festlegen.
Praktisch gibt es in anderen föderalen Staaten wie Deutschland auch Unterschiede je nach zuständigem Amt, aber die formellen Regeln sind überall die Gleichen.
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SWI: Politisch gibt es global momentan eher einen Ruck zu mehr Nationalismus. Gibt es beim Zugang zum Bürgerrecht einen ähnlichen internationalen Trend?
BvR: Tendenziell beobachte ich in den letzten Jahren eher Erleichterungen, bis hin zum neuen deutschen Einbürgerungsgesetz, wo die Aufenthaltsdauer nun auf fünf Jahre gesetzt ist. Verschärfungen gibt es beim Entzug von Bürgerrecht. Im europäischen Kontext, in der Schweiz auch, entzieht man vor allem Terrorismusverdächtigen oder sogenannten Foreign Fighters, also Kämpfern in fremden Armeen, das Bürgerrecht. Grossbritannien ist trauriger Vorreiter. Dort wird das Bürgerrecht auch entzogen, wenn die Person dadurch staatenlos wird.
Das ist ein Dammbruch. 1950 entschied man, dass sich Ausbürgerungen, wie jene von hunderttausenden jüdischen Menschen in Nazideutschland, niemals wiederholen dürfen. Dass die Ausbürgerung nun wieder kommt, ist ein Paradigmenwechsel, den rechtsnationale Kreise fordern.
SWI: Immer wieder gibt es in der Schweiz Fälle von Nicht-Einbürgerungen, die für grosse Aufmerksamkeit sorgten. Zum Beispiel 2017 der Fall von Funda YilmazExterner Link, welcher der Schweizer Pass zunächst verwehrt wurde, obwohl sie seit 18 Jahren im selben Ort wohnte, dort die Schule besuchte, zu der Zeit beruflich fest integriert und mit einem Schweizer verlobt war. Yilmaz wurden auch Fragen zu Religiosität und zum Weltbild der Eltern gestellt. Sind solche Fragen erlaubt?
BvR: Im neuen Bürgerrechtsgesetz ist ein Bekenntnis zu den Werten der Bundesverfassung festgelegt. Das ist sehr offen. In der Forschung warten wir alle darauf, dass das Bundesgericht das interpretiert und die Werte festlegt. Bis dahin kommen genau solche Fragen. Nicht alle davon sind aber legitim.
SWI: Neben Werthaltungen wird bei einer Einbürgerung staatsbürgerliches und lokales Wissen abgefragt. Letzteres ist oft sehr subjektiv. Zum Beispiel, was der schnellste Weg von einer bestimmten Kirche zur Universität ist. Was ist die rechtliche Grundlage dieses offenen Wissens?
BvR: Damit versucht man die lokale Verbundenheit zu prüfen. Bis zu einem bestimmten Punkt ist das legitim, aber wenn die erwartete Antwort zu spitzfindig ist, gilt es als Willkür. So hat auch das Bundesgericht im Falle eines Mannes entschieden, der den örtlichen Zoo kannte, aber sich beim Test nicht mehr erinnerte, welche zwei Tierarten dort das grösste Gehege teilen. Einmal habe ich die Frage gehört: Was sehen Sie, wenn Sie zwischen Bern und Thun aus dem Zugfenster schauen?
SWI: Oh. Was war die richtige Antwort?
BvR: Ich weiss es bis heute nicht. Vielleicht Berge, Äcker, die Aare? Eigentlich müsste jede Antwort richtig sein, wenn eine Frage so beliebig ist. Die Gemeinde wollte die Person nicht einbürgern. Den negativen Entscheid hat ein Gericht später jedoch gekippt.
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