Eine kalte Reform der Volksrechte
Die Verfassung steht über dem Gesetz. Deshalb sind die Hürden für Veränderungen höher. Während eine Änderung der Verfassung in der Schweiz immer von einer Mehrheit von Volk und Ständen angenommen werden muss, genügt bei Gesetzen eine einfache Volksmehrheit, falls überhaupt das Referendum dagegen ergriffen wird.
Doch was auf dem Papier steht, entspricht nicht der Praxis. Wer ein Gesetz einführen oder verändern will, den erwartet ein langwieriger, zäher Prozess. Wichtige Interessengruppen – von den Kantonen bis zu den Sozialpartnern – können sich in einer Vernehmlassung dazu äussern. Parlamentarische Kommissionen erarbeiten Alternativen zum Entwurf des Bundesrats oder zu einer parlamentarischen Initiative. All das wird von National- und Ständerat in mehreren Durchgängen beraten und abgeglichen. Und am Schluss droht immer noch das Referendum.
Wer die Verfassung ändern will, kann dagegen ohne Konsultation von Dritten einen eigenen Text verfassen, 100 000 Unterschriften sammeln und auf eine knappe Volksmehrheit setzen – seit 1955 ist keine vom Volk angenommene Initiative mehr am Ständemehr gescheitert. Das Ständemehr stellt keine qualifizierende Hürde dar.
Die Hemmschwelle für die Annahme von Verfassungsinitiativen ist gesunken. Zugleich wird es in der Schweiz immer schwieriger, Volksmehrheiten für Gesetzesrevisionen zu gewinnen – gerade wenn es um die Reform der Altersvorsorge oder des Gesundheitssystems geht. Aus all diesen Gründen gehen in der Praxis Verfassungsänderungen oft viel schlanker über die Bühne als Gesetzesrevisionen.
Avenir Suisse verkennt Gefahr
Genau dieses Missverhältnis will Avenir Suisse nun mit einer Reform der Volksrechte ändern. Die liberale Denkfabrik schlägt vor, die Unterschriftenzahl für Verfassungsinitiativen mehr als zu verdoppeln und im Gegenzug eine Gesetzesinitiative mit tieferer Unterschriftenzahl einzuführen. Die Relation von Verfassung und Gesetz soll damit vom Kopf wieder auf die Füsse gestellt werden.
Der Vorschlag hat etwas Reizvolles, schliesslich ist die GesetzesInitiative in den Kantonen erprobt. Der Vorschlag verkennt jedoch die wahre Herausforderung des immer offensiver eingesetzten Instruments der Initiative. Die Gesetzesinitiative würde es einer Gruppierung erlauben, ohne den mühevollen Weg des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses zu gehen, ein bis ins Detail ausgearbeitetes Gesetz dem Volk vorzulegen.
Der Stolz auf die direkte Demokratie ist gross in der Schweiz. Stolz hat aber auch die Gesetzgebungstradition dieses Lands verdient. Erst die vielen Hürden und Zwischenetappen, erst die breite Abstützung schaffen die Grundlage für ein austariertes, fein gewobenes Gesetzesgefüge. Nur so kann die Perspektive der Kantone und der sprachlichen Minderheiten eingeflochten werden. Eine nationale Gesetzesinitiative hebelt all diese Hürden aus und ist Gift für den Föderalismus.
Trügerische SVP-Initiative
In den Kantonen ist die Gesetzesinitiative eine massvoll eingesetzte Möglichkeit, Vorschläge einzubringen. Auf eidgenössischer Ebene tobt dagegen ein Machtkampf zwischen Initianten und Parlament. Immer detailliertere Normen und Übergangsbestimmungen werden heute in die Texte von Initiativen geschrieben. Mit der Durchsetzungsinitiative der SVP droht nun nichts weniger als eine Einführung der eidgenössischen Gesetzesinitiative durch die Hintertüre.
Diese zweite Ausschaffungsinitiative ist kein Verfassungsartikel, sondern ein ausgearbeitetes Gesetz. Die SVP nützt aus, dass es keine Regel gibt, die unterbindet, dass ein Initiativkomitee die Verfassung wie das Ausländer- oder Strafgesetz behandelt. Wird die Umsetzungsinitiative angenommen, führt die Stimmbevölkerung deshalb im Vorbeigang de facto die Gesetzesinitiative ein. Zumindest dieser Teil des Reformvorschlags von Avenir Suisse wird somit womöglich schneller Realität, als alle denken.
Wer stolz ist auf die Schweizer Tradition langsamer, hürdenreicher und breit abgestützter Gesetzgebungsprozesse, hat allen Grund, sich gegen diese kalte Reform der Volksrechte zu stellen.
Der Beitrag von Michael Hermann erschien als Kolumne in den Zeitungen Der BundExterner Link und Tages-AnzeigerExterner Link vom 14. April 2015. Die Meinung des Autors muss sich nicht zwingend mit der Position von swissinfo.ch decken.
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