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Eine Lektion für Volksrechte-Muffel

Swissinfo Redaktion

Politikverdruss im Ausland und der Deal im Schweizer Parlament zum Zweitwohnungsbau zeigen: Die direkte Demokratie ist halt doch ein Segen.

Dass das Volk, wenn man es mitentscheiden lässt, Dummheiten macht, ist eine Standardklage in der Demokratie. Wirtschaftsbosse und Professoren sahen in uns Stimmbürgern in den späten 1990er-Jahren ein Hindernis für den Fortschritt; Ökonom Walter Wittmann verewigte das Misstrauen gegenüber der direkten Demokratie im Buchtitel «Bremsklotz der Revitalisierung».

Bund-Chefredaktor Patrick Feuz. zvg

Heute nähren Volksentscheide für Minarettverbot, Verwahrung von Sexualtätern und automatische Ausschaffung straffälliger Ausländer weitherum Skepsis gegenüber dem Volk: Dieses bedränge rechtsstaatliche Grundprinzipien wie das Gebot der Verhältnismässigkeit – und demontiere damit langfristig das Fundament seiner eigenen Freiheit.

Brav, engagiert, interessiert

Gerade heute gibt es aber Gründe, unser System besser zu finden, als es die Zweifler sehen. Dank Volksinitiativen reden wir in der Schweiz über Dinge, die anderswo der öffentlichen Diskussion gezielt entzogen werden. In Deutschland bleibt laut der linksliberalen «Die Zeit» heute «eine Menge unbehandelter dunkler Materie übrig». In einem Konsenssystem der Etablierten lenkt die Grosse Koalition die Entscheidfindung und verwaltet einträchtig die Macht. Im Zuge dieser «Entideologisierung, Entfeindung und Versachlichung» seien «das Spektrum tolerierter Positionen» und die «Zone des Sagbaren» immer enger geworden. «Die Demokratie in Deutschland hat sich von einem wutverarbeitenden zu einem wutverweigernden Betrieb gewandelt.»

Der Preis dafür: wachsender Systemverdruss, offene Aggression, unverhohlene Verachtung für Politik und Medien. Pegida-Märsche und die AFD sind sichtbarer Audruck davon; anderswo sind es rechtsextreme Parteien wie Front National und Ukip oder Wahlsiege von Linksaussen-Populisten wie Tsipras.

In der Schweiz vertraut die Bevölkerung dem Bundesrat in erstaunlichem Mass, wie Umfragen zeigen. Was Verwaltung und Parlament leisten, wird von der grossen Mehrheit geschätzt; Verachtung gegenüber Staat und Politik, wie sie in vielen Ländern üblich ist, verspüren bei uns nur wenige.

Patrick Feuz

Seit Anfang 2015 ist der 47-Jährige Chefredaktor des «Bund», für den er seit 1993 schreibt.

Von 2009 bis 2014 war Feuz Leiter der Bundeshausredaktion der Berner Zeitung und vom «Tages-Anzeiger».

Feuz, der Zeitgeschichte, englische Literatur und Medienwissenschaft studierte, ist auch Autor und Herausgeber von zeithistorischen Fachbüchern. Darunter «Schoggibaron», die Biografie des Berner Schokoladefabrikanten Theodor Tobler, den Erfinder der weltbekannten Toblerone.

Das schweizerische System zwingt Behörden und Politiker zum Zuhören; selbst über unbequeme Anliegen lassen sich Debatten nicht ersticken, drohen doch sonst Initiative oder Referendum. Bürger sind braver, engagierter und zufriedener, wenn sie die Möglichkeit haben, den Mächtigen gelegentlich eine Richtungsänderung aufzuzwingen oder wenigstens einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Gegen Ohnmacht, Desinteresse und Ressentiments gibt es kein besseres Mittel als Volksrechte.

Ein politisches Kunstwerk

Demokratie à la Suisse ist mühsam und anspruchsvoll. Vor allem, wenn vom Volk angenommene Initiativen unklar formuliert oder weltfremd rigid sind – oder rechtsstaatliche Prinzipien strapazieren. Doch diese Woche hat der Schweizer Politbetrieb wieder einmal vorgemacht, wie man solche Probleme löst – auch innenpolitisch besteht also kein Grund, an der direkten Demokratie zu verzweifeln: SVP und FDP respektieren nach zähem Ringen den Wunsch des Stimmvolks, die Alpen nicht mit neuen Zweitwohnungen zuzupflastern.

Im Gegenzug akzeptiert Naturschützerin Vera Weber diverse Ausnahmen vom strengen Prinzip, wonach in Gemeinden mit bereits 20 Prozent oder mehr Zweitwohnungen nicht Neues für Fremde gebaut werden darf. Genau so muss es laufen: Initiativen geben eine Richtung vor – bei der Umsetzung aber müssen die Initianten zu Ausnahmen Hand bieten. Sonst lässt sich in der Regel kein praktikabler Weg finden, ein erkanntes Problem zu lösen. Ohne Flexibilität funktioniert die direkte Demokratie nicht.

Vor allem die SVP kann einiges von Vera Weber lernen: Mit der Ausschaffungsinitiative hat die Partei bereits die richterliche Praxis beeinflusst, und das Gesetz zur Initiative wird noch mehr Ausschaffungen erzwingen. Aber den Richtern konsequent zu verunmöglichen, den Einzelfall zu prüfen – darauf wird die SVP nicht beharren können. Auch die Zuwanderungsinitiative wird sich nur sinnvoll umsetzen lassen, wenn man sie nicht stur auslegt.

Die direkte Demokratie ist ein Kunstwerk. Man muss Sorge zu ihr tragen. Es wäre schade, bekämen die Volksrechte-Muffel eines Tages doch noch recht.


Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitung «Der Bund»Externer Link vom 7. März 2015 erschienen. Die Meinung des Autors muss sich nicht zwingend mit der Position von swissinfo.ch decken.

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