Emmanuel Macron hat die Chancen der direkten Demokratie verpasst
Vor den Neuwahlen in Frankreich zeigt sich, dass Emmanuel Macron die Erwartungen in Bezug auf eine direkte und partizipative Demokratie kaum erfüllt hat. Eine Analyse.
Das Ereignis ging in dem Getöse, das die Auflösung der Nationalversammlung durch den französischen Präsidenten am 10. Juni hervorrief, fast unter: Die abrupte Einstellung der Parlamentsarbeit beendete – ob vorübergehend oder endgültig – die Prüfung des Gesetzes über das Lebensende.
Diese Debatte, in der zum ersten Mal in Frankreich die Frage der Sterbehilfe gestellt wird, war Gegenstand eines Bürger:innenkonvents gewesen, bei dem im vergangenen Jahr 184 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Französ:innen teilgenommen hatten.
«Sie haben als Bürger eine Wahl getroffen, sich zu bilden, zu debattieren und in einem fairen und transparenten organisierten Rahmen zu lernen», freute sich Emmanuel Macron am Ende dieses Konvents, den er initiiert hatte.
Und siehe da: Wenn der rechtsextreme Rassemblement National (RN) die Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli gewinnt oder die Linke siegt, weiss niemand, was aus diesem in Frankreich neuen demokratischen Prozess werden wird.
Andere Herausforderungen scheinen bei den Wahlen wichtiger zu sein, doch dieses demokratische Experiment hinterlässt einen Beigeschmack des Unvollendeten.
Politische Analyst:innen stellen sich die Frage, ob sich die Bürger:innen besser integriert gefühlt hätten, wenn Emmanuel Macron sich stärker auf das Abenteuer der direkten oder partizipativen Demokratie eingelassen hätte. Wären sie damit am Ende weniger geneigt, extremistische Parteien zu wählen?
Eine verpasste Chance
Nach der Krise der «Gelbwesten» in den Jahren 2018-2019, welche die Einführung eines Referendums der Bürgerinitiative (RIC) forderten, «hatte Präsident Macron die historische Gelegenheit, dieses RIC in einer gerahmten Form einzuführen. Aber er hat sie nicht genutzt», bedauert Yves Sintomer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Paris 8 sowie an der Universität Neuchâtel.
Für Emmanuel Macron kam es damals nicht in Frage, die Tür für ein Volksinitiativsystem nach Schweizer Vorbild zu öffnen. «Das Schweizer Modell ist ungeeignet», erklärte er 2019.
In der Schweiz «gibt es ein eidgenössisches System, mit einer rotierenden Präsidentschaft, sehr unterschiedlichen politischen Gleichgewichten, einem anderen Verhältnis zu Öffnung/Schliessung, einer Akzeptanz von Ungleichheiten, einem Verhältnis zur Welt, das zutiefst unterschiedlich ist (…) Wir sind ein gewalttätiges Volk, seit Jahrhunderten und Jahrhunderten. Frankreich ist nicht die Schweiz», sagte der französische Präsident.
Um dem von der französischen Bevölkerung weithin geäusserten Durst nach Demokratie gerecht zu werden, hat sich Emmanuel Macron jedoch vorsichtig auf bestimmte Formen der partizipativen und konsultativen Demokratie eingelassen.
Der erste Bürger:innenkonvent, der sich mit dem Klima befasste, löste eine wahre Demokratiebegeisterung aus. Doch trotz des Versprechens des Präsidenten, fast alle Vorschläge des Konvents «ungefiltert» zu übernehmen, hat das Parlament nur eine Minderheit davon aufgegriffen.
Kurzum, diese demokratischen Experimente erwiesen sich als frustrierend für die Bürger:innen, die das Gefühl hatten, dass ihre Worte nur halb zählten.
Ende 2023 versprach Emmanuel Macron, die Bedingungen für die Durchführung eines Referendums der geteilten Initiative zu lockern.
Dies ist das einzige Mittel, das der Bevölkerung zur Verfügung steht, um ein Referendum einzuberufen. Der Prozess ist jedoch so lang und komplex, dass bislang noch keines zustande gekommen ist. Es ist ein ziemlich vages Versprechen, das den derzeitigen politischen Turbulenzen möglicherweise nicht standhalten wird.
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Frankreich, ein zerstrittenes Land
Hätte Emmanuel Macron in Bezug auf die direkte Demokratie schneller handeln und weiter gehen sollen?
Der Politologe Jean-Yves Camus sagt: «Frankreich ist in diesem Bereich hundert Jahre hinter der Schweiz zurückgeblieben.
In Frankreich gibt es immer mehr lokale Referenden, deren Ergebnisse für die jeweiligen Regierungen nicht bindend sind. Über die Nutzung von E-Scootern in Paris zum Beispiel.»
Aber ist Frankreich bereit, die nächste Stufe zu erreichen, d. h. Referenden aus Bürger:inneninitiativen zu nationalen Themen? «In einer friedlichen Demokratie wie der Schweiz funktioniert das gut. In einem gespaltenen Land, das von Leidenschaften geprägt ist, wie es Frankreich seit der Französischen Revolution ist, ist das Risiko jedoch grösser», kommentiert Jean-Yves Camus.
«Worüber würde man abstimmen: Über die Wiedereinführung der Todesstrafe?» Der Politologe, der sich auf die extreme Rechte spezialisiert hat, ist misstrauisch.
Der Schweizer Politologe François Chérix meint: «Emmanuel Macron hat versucht, die alten politischen Spaltungen zu überwinden und die Bürger schrittweise in das demokratische Leben einzubinden. Aber die politische Kultur Frankreichs ist nicht bereit für eine halbdirekte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Das politische Klima ist dort zu konfliktreich. Der Konsens wird auf dieser Seite des Juras kaum geschätzt.»
Die ungehörte Stimme des Volkes
Ohne die Akzeptanz des Volkswillens gibt es jedoch auch keine halbdirekte Demokratie. Wenn die politische Macht die Entscheidung des «Souveräns» nicht auf loyale und einvernehmliche Weise respektiert, ist das Referendum nutzlos.
Die Volksbefragung zum Flughafen Nantes in Notre-Dame-des-Landes mit einer Ja-Mehrheit haben Präsident Macron nicht davon abgehalten, das Flughafenprojekt aufzugeben.
Das Regime ist so vertikal organisiert, dass die Ergebnisse solcher Konsultationen nicht immer respektiert werden.
«In der Frage der Vorstädte wartete der Präsident 2018 nicht einmal den Bericht ab, den er selbst beim ehemaligen Minister Jean-Louis Borloo in Auftrag gegeben hatte. Und er ergriff Massnahmen, die dem entgegengesetzt waren», erinnert sich Claudine Schmid, ehemalige französische Parlamentarierin aus der Schweiz.
Die Auflösung des Parlaments: ein politischer Schachzug oder eine demokratische Geste?
Mit der Auflösung der Nationalversammlung gibt Emmanuel Macron dem Volk wieder das Wort. Das ist eine Art, die französische Demokratie am Leben zu erhalten, werden die Optimist:innen sagen.
Yves Sintomer, der auch Historiker für demokratische Experimente ist, meint: «Das sieht eher nach einem politischen Schachzug aus. Ein Schachzug, der vom Elysée-Palast im Alleingang beschlossen wurde, mit allen Chancen und Risiken. Meiner Meinung nach nichts sehr Demokratisches.»
Und wenn die Idee von Emmanuel Macron darin bestand, die extreme Rechte, die seit etwa 40 Jahren immer beliebter wird, zu zwingen, ihre Hände dreckig zu machen, die täglichen Geschäfte zu führen, den Haushalt des Landes zu verwalten, kurz: zu regieren – ein Wort, das in Frankreich sofort unpopulär ist?
«In der Schweiz gelingt es uns, die radikalsten Positionen durch unser System der Konkordanz zu dämpfen», sagt François Chérix. «Wir integrieren die Opposition, um sie zu neutralisieren.» Aber in Frankreich, wo es den Ausdruck «Zauberformel» nicht gibt, «scheint mir diese Wette viel riskanter zu sein».
Sollte die Partei von Marine Le Pen, die stets ein gewisses Interesse am Schweizer Modell bekundet hat, an die Macht kommen, verspricht sie, die Instrumente der direkten Demokratie zu nutzen.
«Bis 2017 versprach Marine Le Pen ein Referendum über die Mitgliedschaft Frankreichs in der Europäischen Union. Dann war von einem weiteren über die Einwanderung die Rede. Heute weiss man es nicht mehr so genau», stellt Jean-Yves Camus fest. «Sicher ist, dass das Referendum des RN einer Form des Cäsarismus, des Bonapartismus ähnelt. Es ist ein von oben beschlossener Appell an das Volk.»
Editiert von Samuel Jaberg/pt, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger
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