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Ebnet der Skandal um gefälschte Unterschriften der Schweiz den Weg zum digitalen Sammeln?

Noémie Roten blickt in die Kamera.
Noémie Roten ist Direktorin des Vereins Service Citoyen. Hier zeigt sie den Unterschriftenbogen ihrer Volksinitiative. Keystone / Anthony Anex

Im Herbst 2024 wurden Vorwürfe bekannt, dass ein Unternehmen systematisch Unterschriften für Volksinitiativen gefälscht haben soll. Seither bekommen die Forderungen für Online-Unterschriftensammlungen Auftrieb. Ein Blick nach Kalifornien zeigt, dass bei einer Digitalisierung der direkten Demokratie das gesellschaftliche Vertrauen ein Faktor ist.

Noémie Roten wirkt wie eine sehr staatstragende Bürgerin. Roten machte einen grossen Skandal in den demokratischen Institutionen der Schweiz Zeit publik – und sagt hinterher: «Selbst in der besten Demokratie der Welt kann es zu solchen Vorfällen kommen.»

Sie finde «Weckrufe» gar nicht schlecht, weil diese Bürgerinnen und Bürger daran erinnern, dem Staat auf die Finger zu schauen. Dass sich Institutionen hinterfragen, sei ein gutes Zeichen.

Wie der Schweizer «Unterschriften-Bschiss» bekannt wurde

Was ist passiert? 2023 erstattete Rotens Verein Service Citoyen polizeilich Anzeige, nachdem sie feststellte, dass von einer bezahlten Unterschriftenfirma besonders viele mutmasslich gefälschte Unterschriften für ihre Volksinitiative kamen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon zunächst nichts.

Dies änderte sich ein Jahr später mit einer Recherche der Tamedia-Zeitungen. Diese zeigte: Viele Unterschriften sind mutmasslich gefälscht – aus allen politischen Lagern, ob bei Initiativen für mehr Umweltschutz oder gegen Migration. Verdächtigt ist vor allem ein kommerzielles Unternehmen.

Wurde über ein Anliegen ohne den nötigen Rückhalt abgestimmt?

Ein Chefbeamter des Kanton Waadts erklärte gegenüber Tamedia, dass er von einer hohen Dunkelziffer an gefälschten Unterschriften ausgehe. Ein Kampagnenberater hat sich sogar sicher gezeigt, dass über «einige» Initiativen nur wegen gefälschten Unterschriften abgestimmt worden sei. Nun hält sich dieser Verdacht im oft als makellos wahrgenommenen politischen System der Schweiz.

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Bereits 2022 erstattete die Schweizer Bundeskanzlei wegen verdächtigen Unterschriften Anzeige, was die Öffentlichkeit aber erst durch die Tamedia-Recherche erfuhr. Anfang 2025 macht die Bundeskanzlei dann eine neue Anzeige bekannt wegen 21’000 mutmasslich gefälschten UnterschriftenExterner Link, gesammelt auch in der Zeit, wo der Skandal bereits öffentlich war.

«Unterschriften-Bschiss» wurde zum Schweizer Wort des Jahres 2024 gekürt. 2024 war auch das erste Jahr, in dem mit Rumänien ein EU-Land das Ergebnis seiner Präsidentschaftswahlen annulliert hat – auf Geheiss des Verfassungsgericht wegen ausländischer EinflussnahmeExterner Link im Wahlkampf. 

Helvetia und Wilhelm Tell sammeln Unterschriften auf dem Bundesplatz.
Unterschriftensammler:innen für Volksinitiativen und Referenden gehören in der Schweiz zum Strassenbild. Selbst, wenn sie selten als Helvetia und Wilhelm Tell verkleidet sind, wie hier 2014 bei einer Aktion für die «Vollgeld-Initiative». Keystone/Gian Ehrenzeller

Im Schweizer «Unterschriften-Bschiss» betrifft die Unsicherheit nicht das Abstimmungsergebnis, sondern nur die Frage, ob die Schweizer:innen über ein Thema abgestimmt hatten, dem es an der nötigen Anzahl Unterstützender mangelte.

«Es findet ja trotzdem eine Abstimmung statt», sagt Noémie Roten, die um die Sicherheit Schweizer Abstimmungsresultate nicht besorgt ist.

Die Vorzeigedemokratie im «Informationskrieg»

Aber die Fallhöhe ist gross. Die Schweiz gilt im internationalen Vergleich als stabile Vorzeigedemokratie. Roten findet, man müsse sich bewusst sein, dass «wir in einem Informationskrieg» seien und Nachrichten wie diese genutzt würden, «um die Glaubwürdigkeit der Demokratie in Frage zu stellen».

Manche ausländischen Medien hätten es genossen, am perfekten Bild der Schweiz zu rütteln. «Gleichzeitig sehe ich es auch als Stärke von unserem System, dass solche Skandale überhaupt an die Öffentlichkeit kommen», sagt Roten.

Sie ist optimistisch, dass die Schweiz Lehren aus dem Skandal zieht – aber gleichzeitig resolut der Meinung, dass das Land auch Lehren ziehen muss.

In vielen Ländern müssen Kandidierende, um zur Wahl anzutreten, eine bestimmte Menge Unterschriften sammeln. Entsprechend gibt es in diesem Zusammenhang international auch viele Vorwürfe von gefälschten Unterschriften. Sie kamen zum Beispiel 2023 in IrlandExterner Link auf, 2024 im Wahlkampf in SüdafrikaExterner Link und im US-Bundesstaat MichiganExterner Link, wo kurz davor fünf Kandidaturen fürs Gouverneursamt wegen Tausenden gefälschten Unterschriften gesperrt worden sind.

Was kann die Schweiz gegen verdächtige Unterschriften tun?

Erstmals aufgefallen ist Roten die Häufung verdächtiger Unterschriften wegen dem halbautomatisierten, digitalen System, mit dem das Initiativkomitee die Unterschriften erfasst hat. «Das wirkte als Frühwarnsystem», erzählt Roten, da es genau zeigte, von welchem Urheber die gefälschten Unterschriften gekommen sind. Trotzdem sei die Detektivarbeit herausfordernd gewesen für den kleinen Verein.

Das Fälschen von Unterschriften ist in der Schweiz strafbar. Im Zuge des Skandals wurde eine Online-Plattform eingeführt, auf der Gemeinden ungültige oder verdächtige Unterschriften melden können. Damit erlange man «ein aktuelles und gesamtheitliches Lagebild» und könne regionale Muster erkennen, teilt die Schweizer Bundeskanzlei SWI swissinfo.ch auf Anfrage mit. Neue Erkenntnisse aus diesem Tool werden dann in die Strafanzeigen eingearbeitet.

Generell betont die Bundeskanzlei, dass sie zahlreiche Massnahmen ergriffen habe, darunter ein Runder Tisch, eine Überarbeitung von Leitfäden und ein Austausch mit der Wissenschaft.

Doch was aus Perspektive der Initiantin Noémie Roten noch fehlt, ist eine Art «Whistleblower-Plattform» und Ressourcen für Komitees, die diesen die Detektivarbeit abnimmt.

Bis zu 30 Dollar pro Unterschrift in den USA

In der Schweiz prägen eine Handvoll Firmen den überschaubaren Markt für bezahlte Unterschriften. Einen grösseren Markt gibt es in den USA. Einerseits für Kandidaturen; andererseits – in Bundesstaaten mit direktdemokratischen Elementen – um Volksabstimmungen zu ermöglichen. Dabei wird gemäss dem National Public RadioExterner Link bis zu 30 Dollar pro Unterschrift bezahlt.

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Dementsprechend gibt es auch in den USA eine DiskussionExterner Link, wie sich diese bezahlten Unterschriftensammelnden auf die Demokratie auswirken.

In der Schweiz sind die Preise tiefer. Aber seit der Pandemie gibt es auch Preise von bis zu 7.50 Franken pro Unterschrift. Trotzdem bedeutet es im Vergleich zu den Kosten, die später der Abstimmungskampf bedeutet, eher wenig Geld, wenn ein Komitee 10’000 bis 20’000 der nötigen 100’000 Unterschriften an bezahlte Sammler:innen auslagert.

Warum ein Verbot vom kommerziellen Unterschriftensammeln kleinen Vereinen schaden könnte

«Ich habe auch 1000 Unterschriften persönlich gesammelt für unser Anliegen», sagt Noémie Roten. Doch für einen kleinen Verein ohne Grosspartei oder mächtige Organisation im Rücken sei es nur möglich ohne bezahlte Sammler:innen ein Anliegen zur Volksabstimmung zu bringen, wenn die Beteiligten dafür die Möglichkeit hätten, ihre Freizeit dafür einzusetzen.

Darum würde Roten das kommerzielle Unterschriftensammeln nicht verbieten wollen. «Das Verbieten des bezahlten Unterschriftensammelns schliesst einen Teil der Bevölkerung aus, der sich Freiwilligenarbeit schlicht nicht leisten kann», sagt Roten.

Mitgliederstarke Organisationen wie Gewerkschaften können viele mobilisieren, die für sie auf die Strasse gehen. Kleine Gruppen, die vielleicht auch mit einem weniger polarisierenden Anliegen antreten, könnten es schwerer haben.

Im Schweizer Parlament häufen sich momentan die Anträge und Anfragen dazu, wie dem Problem der gefälschten Unterschriften begegnet werden soll. Eine Idee ist das Online-Sammeln von Unterschriften.

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Schon seit längerem gibt es Gruppen in der Schweiz, die lautstark digitale Unterschriftensammlungen fordern.

Der im «Unterschriften-Bschiss» entstandene Eindruck, dass physische Unterschriften nicht sicher sind, gibt diesen Forderungen Auftrieb.

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Die Bundeskanzlei erarbeitet momentan, wie sie gegenüber SWI swissinfo.ch mitteilt, die «Grundlagen für beschränkte, praktische Versuche» von digitalem Unterschriftensammeln, dem sogenannten E-Collecting. Dazu gebe es nämlich neue «offene Fragen» im Bezug «auf die Verhinderung von Missbrauch».

Was würde E-Collecting für die Schweizer Demokratie bedeuten?

Eine StudieExterner Link im Auftrag des Bundes hat 2023 untersucht, wie sich das E-Collecting auf die Schweizer Demokratie auswirken könnte: Anders als manche befürchten, käme es beim bequemen Unterschriftensammeln von zuhause aus nicht zu einer Initiativflut, aber wohl schon zu mehr Abstimmungen. «Der Anstieg dürfte aber gering sein», heisst es in der Studie.

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Es sei plausibel, dass sich die Nachteile für Akteure mit wenigen Mitteln «etwas abmildern» und gleichzeitig digitalaffine Teile der Bevölkerung etwas bevorteilt würden.

Wenn es dank E-Collecting mehr Volksabstimmungen gebe, könne dies laut der Studie «auch als Belebung des politischen Systems und Stärkung des demokratischen Dialogs betrachtet werden».

International wenig Erfahrung mit dem digitalen Unterschriftensammeln

«Wir sind in einer neuen Schweiz aufgewacht», sagte Daniel Graf dem Magazin BeobachterExterner Link kurz nach dem Skandal. Graf fordert als Aktivist schon lange digitale Unterschriftensammlungen.

Es ist eine von mehreren seit Herbst 2024 lauter gewordenen Stimmen für das Anliegen. Wenn man diese Diskussion verfolgt, könnte man meinen, die Schweiz hängt einer internationalen Entwicklung hinterher. Doch tatsächlich ist die Zurückhaltung auch anderswo gross.

Zwar kann man in der Europäischen Union eine Bürgerinitiative online unterzeichnen – doch ist dieses politische Instrument so schwach, dass es ohnehin keine politische WirkungExterner Link zeigt. Und nur im US-Bundesstaat Utah ist es erlaubt, UnterschriftenExterner Link digital zu sammeln.

Keine Initiative ohne kommerzielle Sammelnfirmen in Kalifornien

In Kalifornien, wo neben der Schweiz weltweit die meisten Volksabstimmungen stattfinden, scheiterte vor ein paar Jahren eine Initiative für E-Collecting bereits in der Sammelphase. «Ja, das ist lustig», sagt Emily Schultheis, «Und Teil des Teufelskreises.» Schultheis ist Politico-Reporterin für direkte Demokratie in Kalifonien.

Emily Schultheis
Emily Schultheis ist bei Politico Reporterin für Volksabstimmungen in Kalifornien. Thomas Trutschel / Photothek.de

In Kalifornien sei es fast unmöglich die nötigen Unterschriften für eine Initiative zu sammeln, ohne auf bezahlte Unterschriftenunternehmen zu setzen. «Dies ist der Hauptunterschied zur Schweiz», sagt Schultheis.

Die Anzahl nötiger Unterschriften ist im Verhältnis zur Bevölkerung etwa zweieinhalb Mal so hoch – und die Sammelzeit dreimal kürzer: 18 Monate in der Schweiz – 180 Tage in Kalifornien.

Auch viele in Kalifornien würden den Sammelfirmen laut Schultheis mit einer gewissen Skepsis begegnen, obwohl kein vergleichbarer Skandal wie in der Schweiz bekannt ist. Aber man beobachte, wie diese Firmen plötzlich verschwinden und unter anderem Namen wieder auftauchen.

8 bis 10 Millionen Dollar im Budget für die Unterschriftensammlung

Immer wieder sei es, so Schultheis, für einzelne Kalifornier:innen schmerzhaft, wenn sie erkennen, dass keine leidenschaftlichen Sammler:innen für ein Anliegen auf der Strasse stehen, sondern bezahlte Leute.

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Gemäss Schultheis budgetieren die Initiativkomitees in Kalifornien für das Bezahlen der Sammler:innen etwa 8 bis 10 Millionen Dollar. «Kalifornier:innen mögen den Initiativprozess, aber sie finden, es sei zu teuer, zu intransparent und es sei nicht einfach, sich da einzubringen», schildert Schultheis.

Persönlich hielte sie E-Collecting für eine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. «Das Ziel hinter direktdemokratischen Elementen ist es, Leuten die Möglichkeit zu geben, sich direkt zu involvieren, Gesetzesvorschläge zu machen und den Fokus auf Themen zu richten, die ihrer Meinung nach ignoriert werden», sagt Schultheis. Das digitale Sammeln von Unterschriften könnte diese Aspekte stärken.

Jubel in Kalifornien
Kalifornische Lehrer-, Feuerwehr- und Pflegevertretungen bejubeln ein Abstimmungsergebnis 2005. Keystone/AP Photo/Paul Sakuma

US-amerikanische Vertrauenskrise macht E-Collecting unrealistisch

Doch sie ist nicht optimistisch, dass Kalifornien E-Collecting einführt. «Die ganzen USA sind momentan in einer Vertrauenskrise auf verschiedensten Ebenen», sagt sie.

Jeder Vorschlag zur Digitalisierung der Demokratie habe es schwer. «Die Betrugsvorwürfe des neue Präsidenten und seiner Verbündeten haben dafür gesorgt, dass Republikaner:innen dem System weniger vertrauen – und wohl noch weniger den Änderungen, die eine Regierung der Demokraten, wie jene Kaliforniens, einführen würde», sagt Schultheis. Die Kalifornier:innen bekommen ihre Wahlunterlagen auf Papier und unterschreiben auf Papier. Daran werde sich so schnell nichts ändern, so Schultheis.

Selbst, wenn digitale Unterschriften zentral überprüfbar sind, vertrauen viele Leute wohl weiterhin dem Papier. Die Schweizer Bundeskanzlei hat noch keine Informationen dazu, wie sich das digitale Unterschriftensammeln auf das Vertrauen in der Bevölkerung auswirkt. Wissen könne man das nur durch Versuche in der Praxis, teilt die Schweizer Bundeskanzlei mit.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Balz Rigendinger

Unterschriften-Bschiss: Was braucht es jetzt?

Kommerzielle Unterschriftensammler sollen im grossen Stil Unterschriften gefälscht haben. Was braucht es, damit das Vertrauen erhalten bleibt?

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Editiert von David Eugster

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