EU punkto direkte Demokratie mit erheblichem Rückstand
Die Europäische Union heftet sich seit 2012 partizipative Demokratie auf ihre Fahnen. Die Europäische Bürgerinitiative soll den Bürgern mehr Mitsprache verleihen. Doch die Bilanz nach den ersten drei Jahren fällt ernüchternd aus, wie am "Tag der Europäischen Bürgerinitiative" vom 13. April 2015 in Brüssel, offiziell ECIDay 2015 genannt, klar wurde.
Wie den Graben zwischen der EU und ihren über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern überbrücken und das Vertrauen in die Behörden in Brüssel stärken? Die EU meinte 2012, mit dem Vertrag von Lissabon einen Weg gefunden zu haben. Darin ist in einem Artikel verankert, dass die Bürger stärker politischen Einfluss nehmen können. Dies mit dem direktdemokratischen Verfahren der Europäischen Bürgerinitiative (ECI für European Citizen’s Initiative)Externer Link. Damit können mindestens eine Million Bürger aus mindestens sieben Ländern mit ihrer Unterschrift Vorschläge für neue EU-Gesetze einreichen. Die EU-Kommission als Exekutivorgan muss sich dann mit dem Thema befassen. Übrigens: Die Unterschriften können auch online gesammelt werden.
Drei Jahre später herrscht bei zahlreichen politischen Akteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft Desillusion. Sie kamen am Montag am ECIDay2015 am Sitz der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss (Cese)Externer Link zusammen, um die Gründe für den bisher harzigen Verlauf sowie Vorschläge für die Neubelebung des Instruments auszuloten.
Dabei «kann die partizipative Demokratie die europäische Konstruktion wiederbegründen. Dies nach den jahrelangen Erschütterungen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise», sagte der französische Cese-Präsident Henri Malousse.
Doch die hohen gesetzlichen Hürden und Anforderungen limitierten die direktdemokratische Funktion der Bürgerinitiative erheblich, kritisierten Vertreter von Nichtregierungs-Organisationen in Brüssel.
Erfolg als Ausnahme
Die Organisation Democracy InternationalExterner Link hat deshalb am ECIDay vom Montag einen «öffentlichen Appell zur Unterstützung des Überlebens der ECI» lanciert, denn diese sei durch die EU-Kommission bedroht. Tatsächlich ist die EU-Regierung nicht verpflichtet, die Initiativen umzusetzen.
Statistiken seien dazu da, Dinge zu beweisen, betonte Bruno Kaufmann, Chefredaktor von People2PowerExterner Link, am ECIDay2015. Eines der Hauptziele von Kaufmann und der Plattform, die von swissinfo.ch unterstützt wird, ist die Verankerung eines Systems echter direkter Demokratie innerhalb der EU.
3 von 51…
Bis heute haben lediglich 3 von insgesamt 51 europäischen Bürgerinitiativen alle Hürden zur Prüfung durch die EU-Kommission genommen:
Die Initiative «Right2Water» («Recht auf Wasser»), eingereicht im Dezember 2013. Sie lädt Brüssel zur Ausarbeitung eines Gesetzes ein, welches das Recht auf Wasser und die sanitarische Versorgung als Menschenrecht gemäss UNO-Richtlinien gewährleistet. Die Europäische Kommission hat sich verpflichtet, entsprechende Massnahmen vorzulegen.
Auch erfolgreich war eine Initiative zum Schutz von Embryonen. Verlangt wird die Einstellung sämtlicher Finanzierung von Handlungen, welche die Zerstörung von menschlichen Embryonen nach sich ziehen. Betroffen wären insbesondere die Bereiche Forschung, Entwicklungshilfe und öffentliche Gesundheit. Im Mai 2014 jedoch lehnte die EU-Kommission die Übernahme des Bürgerbegehrens ab.
Eine dritte Vorlage mit dem Titel «Stopp der Vivisektion» ist in Brüssel noch in Prüfung durch die EU-Kommission. Diese will bis spätestens am 3. Juni 2015 entscheiden. Verlangt werden strengere Gesetze für Tierversuche.
Und die Zahlen aus den letzten drei Jahren sprechen eine deutliche Sprache:
Seit April 2012 gingen bei der EU-Kommission 51 Anträge für Europäische Bürgerinitiativen zur Prüfung ein. Die EU-Exekutive liess im Startjahr 16 Begehren zur Prüfung zu, 2013 deren neun. Im letzten Jahr kamen fünf Begehren ins Prüfungsstadium, im laufenden Jahr schaffte dies erst eine Initiative. Alle anderen Eingaben wurden abgelehnt.
Die Resultate selber fallen noch enttäuschender aus: Bis heute haben erst drei Europäische Bürgerinitiativen sämtliche Hürden genommen, sprich, dass die EU-Kommission Vorschläge für neue Gesetze ausarbeitet. Diese werden anschliessend durch EU-Parlament und EU-Ministerrat beraten. Und bei einer der drei Initiativen steht heute schon fest, dass sie in der Sackgasse endet (siehe Kasten).
Wer klemmt?
Frans Timmermans, Vizepräsident der Europäischen Kommission, wies die Verantwortung für die äusserst magere Bilanz den EU-Mitgliedstaaten zu. Brüssel sei nur die «Hüterin der EU-Verträge», so der Niederländer, «und ein Gefangener jener Entscheidungen, die auf einer Ebene getroffen werden, die Brüssel nicht beeinflussen kann».
In einem Bericht räumte die Kommission Ende März immerhin einen «Mangel an Effektivität» sowie Verbesserungs-Potenzial bei technischen Abläufen ein. Dies betrifft u. a. die juristische Form der Bürgerkomitees, die ECIs lancieren, die Registrierung der Begehren in Brüssel, den Fahrplan der Prüfungen, die Sammlung von Online-Unterschriften und den «Dialog» zwischen Urhebern und EU-Behörden.
Den Verfechtern der direkten Demokratie auf EU-Ebene reicht dies aber nicht. Zwar anerkennen sie, dass die EU-Institutionen Anstrengungen unternommen hätten. Ein Beispiel dafür: Am 13. April hat der EU-Wirtschafts- und Sozialrat unter Präsident Henri Malousse angekündigt, dass die Behörde die Übersetzungen jener Begehren, die grünes Licht der Zentrale erhalten, in die 23 offiziellen EU-Sprachen übernehmen werde.
«Die europäischen Bürger müssen den Eindruck erhalten, dass man sie erhört und dass sie ernst genommen werden», mahnte die EU-Vermittlerin Emily O’Reilly aus Irland im erwähnten Bericht.
Für sie wie für Cese-Präsident Henri Malosse und andere Beteiligte bedeutet dies, dass eine «öffentliche Debatte» über alle europäischen Bürgerinitiativen geführt und gefördert werden müsse. Dies soll unabhängig davon stattfinden, wie die Europäische Kommission als «Gefangene ihrer Rolle als Hüterin der EU-Verträge» die vorgelegten Begehren beurteilt.
Frans Timmermans hat sich am ECI-Tag in Brüssel offen gezeigt. «Wir werden uns daran machen, die Regeln zu ändern», sagte er, steckte aber sogleich wieder klare Grenzen des Instruments ab, denn «es sind die EU-Staaten und deren Parlamente, die das letzte Wort haben». Schlussbemerkung von P2P-Chefredaktor Bruno Kaufmann: «Es fehlt am politischen Willen», denn die Staaten hätten die Macht, die Regeln zu ändern.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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