«Die Europawahl steht für eine demokratische Rezession»
Kein Umsturz nach rechts, aber wichtige Weichenstellungen für die Zukunft der kriselnden Demokratien Europas: Dies erwartet Niklaus Nuspliger, Brüsseler Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, von der EU-Wahl von Ende Mai.
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Auf einer Tour von Island bis Ungarn hat Niklaus Nuspliger den Demokratien in der EU den Puls genommen. Seine Eindrücke und Schlüsse legt er jetzt im Buch «Europa zwischen Populistendiktatur und Bürokratenherrschaft»Externer Link vor, das Ende April erschienen ist.
Aus seinen Reportagen aus acht Hotspots von demokratischer Innovation (Island) bis hin zum liberalem Totalabbruch (Ungarn) spricht die grosse Sorge des ausgebildeten Politikwissenschaftlers, dass es mit der freiheitlichen, auf Pluralismus und Diversität gebauten Demokratien in Europa schneller vorbei sein könnte, als viele wahrhaben wollten.
swissinfo.ch: Was gab Ihnen den Anlass, das Buch zu schreiben?
Niklaus Nuspliger: Unmittelbar die Europa-Wahl, die Ende Mai stattfinden wird. Sie ist sehr wichtig, weil die EU-Bürgerinnen und -Bürger nur alle fünf Jahre das Europaparlament wählen können.
Ich hatte aber auch das Bedürfnis, der Demokratiekrise genauer auf den Grund zu gehen. In Brüssel sagen zwar alle, dass es ein Demokratie-Defizit gibt. Und viele sehen die unterschiedlichsten Bedrohungen für die Demokratie. Aber man ist sich nicht einig, was Demokratie genau bedeutet. Im Buch habe ich versucht, etwas Ordnung in diese Debatte zu bringen.
swissinfo.ch: Vom 23. bis 26. Mai sind knapp 430 Millionen EU-Bürger aufgerufen, das EU-Parlament zu wählen. Darunter auch knapp zwei Millionen EU-Bürger in der Schweiz. Inwiefern ist die Wahl auch wichtig für die Schweiz?
N.N.: Das neue EU-Parlament wählt den neuen EU-Kommissionspräsidenten. Dies auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer. Danach, vermutlich im Herbst, wählt das EU-Parlament die EU-Kommission, und zwar en bloc.
Die EU-Kommission ist eine sehr wichtige Behörde, weil sie Gesetzesvorschläge machen kann. Sie verfügt sozusagen als einziges Organ in der EU über das Initiativrecht. Und sie spielt natürlich auch in den Verhandlungen mit der Schweiz eine wichtige Rolle.
swissinfo.ch: Im Buchtitel haben Sie mit Populistendiktatur und Bürokratenherrschaft zwei starke Pole gesetzt. Wo in Europa gibt’s die Populistendiktatur?
N.N.: Ich habe bewusst etwas provokativ formuliert. Ich zeige gegen Ende des Buches zwei Szenarien, zwei Dystopien, wohin sich Europa bis 2030 entwickeln könnte. Das eine Szenario ist eine autoritäre Welle, die über Europa hereinbricht. Das andere Extrem ist Europa unter einer Expertenherrschaft der Bürokraten.
Was die Populistendiktatur betrifft, ist Ungarn ein bedenkliches Beispiel. Ich habe für das Buch längere Zeit in Ungarn recherchiert. Dort kam Viktor Orban, heute allen ein Begriff, vor knapp zehn Jahren legitim und ganz demokratisch an die Macht. Seither hat er Schritt für Schritt die demokratischen Gegengewichte ausgeschaltet.
Heute ist es für die Opposition sehr schwierig geworden, einen Machtwechsel herbeizuführen. In Ungarn finden zwar noch Wahlen statt. Aber es ist keine volle Demokratie mehr, weil zwischen Regierung und Opposition kaum mehr ein Machtwechsel stattfinden kann.
swissinfo.ch: Zur Bürokratenherrschaft, die Sie im Buch mit Beispielen illustrieren, die fast bizarr anmuten. Etwa, wenn der gesamte Betrieb des EU-Parlaments jeweils nach Strassburg zieht und die nötigen Dokumente in neun Lastwagenladungen dorthin und wieder zurück nach Brüssel gekarrt werden. Wie nehmen Sie diese wahr?
«Das Parlament disloziert einmal pro Monat nach Strassburg. Man spricht auch vom ‹Wanderzirkus›.»
N.N.: Das Parlament disloziert einmal pro Monat nach Strassburg. Man spricht auch vom «Wanderzirkus». Es gibt aber auch Sitzungen von Regierungschefs und von Ministern in den anderen Mitgliedsländern.
Einerseits bedeuten diese Verschiebungen einen grossen Aufwand. Andererseits aber ist es auch Ausdruck davon, dass die EU nicht nur in Brüssel angesiedelt ist, sondern eine grosse Union darstellt, die in 28 Mitgliedsländern stattfinden soll.
swissinfo.ch: Sie stellen die These auf, dass die EU-Wahl für eine Multikrise der Demokratie in Europa steht. Können Sie diese Krise skizzieren?
N.N.: Die Wahl steht letztlich auch für die sogenannte demokratische Rezession, die ich im Buch beschreibe. Die Bürger haben den Eindruck, dass sie zwar in einer Demokratie leben, aber über immer weniger Fragen effektiv entscheiden können.
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Dies, weil Lobbyisten Einfluss nehmen, weil es Spendenaffären gibt oder globale Marktkräfte wirken, die den Spielraum der Politiker beschränken. Dazu kommt, dass Entscheide an Gerichte und internationale Organisationen ausgelagert werden.
Die Auswirkungen: Die Bürger gehen weniger an die Urnen, und die traditionellen Volksparteien stecken europaweit in der Krise. Es sind dies die Christlichdemokraten und die Sozialdemokraten, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg politisch wiederaufgebaut haben. Bei der anstehenden Wahl dürften sie im EU-Parlament erstmals die Mehrheit verlieren, was einem bedeutenden Einschnitt gleichkäme.
Profitieren davon können neue Kräfte: Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich inszenieren sich als Spitze einer Bewegung.
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Aber wir haben auch die populistischen Bewegungen. Wie in Italien, wo die rechtspopulistische Lega mit der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung regiert. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, den man vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte.
swissinfo.ch: Ich entnehme dem Buch eine grosse Sorge darüber, dass es in knapp einer Monat zu einer breiten Verschiebung hin zu populistischen und rechtsnationalen Parteien kommen könnte. Welchen Ausgang erwarten Sie?
N.N.: Europa wird am Tag nach der Wahl nicht komplett anders aussehen. Die angesprochenen, zu erwartenden Verschiebungen werden kaum dazu führen, dass die Rechtspopulisten und -nationalisten im EU-Parlament die Mehrheit haben werden. Dazu sind sie unter sich auch nicht in allen Punkten einig.
Ich sehe die Wahl eher als Weichenstellung: Werden sie im EU-Parlament zu einem Machtfaktor? Gelingt es ihnen, mit den Christlichdemokraten oder anderen Partnern Allianzen zu schmieden?
Vorstellbar ist aber auch, dass als Reaktion auf die Wahlgewinne der Rechten die Weichen hin zu einer Bürokraten- und Expertenherrschaft gestellt werden. Dies mit dem Argument, dass das Volk manipulierbar sei und nur noch Rechtspopulisten wählen würde.
«Europa wird am Tag nach der Wahl nicht komplett anders aussehen.»
swissinfo.ch: Was mir im Buch etwas fehlt, ist die politische Gegenbewegung der Grünen und der jungen Generation, die europaweit zu Zehntausenden für einen wirksamen Klimaschutz auf die Strasse geht. Könnte daraus eine neue soziale Bewegung werden, welche die Demokratien vitalisiert?
N.N.: Es ist sehr positiv, dass sich Menschen engagieren und ihre Forderungen auf der Strasse vertreten. Als Teil dieser Gegenbewegung sehe ich durchaus auch Emmanuel Macron, der gegen Rechtspopulismus und für ein starkes Europa eintritt.
Ich habe in den letzten Jahren beobachtet, dass unter den Eindrücken von Brexit, Trump, dem Anrollen einer nächsten Populismus-Welle und der Zerstörung der EU mehr und mehr Bürger zum Schluss kommen, sich für Europa zu engagieren. Die Klimabewegung sehe ich momentan aber schon monothematisch.
EU-Wahl 23. bis 26. Mai 2019
Zu vergeben sind 751 Sitze im EU-Parlament. Es ist dies das einzige EU-Organ, das vom Volk direkt gewählt wird.
Die Wahl findet auf nationaler Ebene in allen 28 Mitgliedsländern inkl. Grossbritannien statt.
Wahlberechtigt: Knapp 427 Mio. EU-Bürger, davon knapp 2 Mio. in der Schweiz.
Sitzzahl: Vergabe nach Ländern gemäss Einwohnerzahl. Grösstes Land: Deutschland, 96 Sitze. Zwerge: Malta, Zypern, 6 Sitze (überrepräsentiert).
System: Proporzwahlrecht mit national unterschiedlichen Regeln.
Wahlverfahren: mit Stimmzettel (analog). EU-Bürger, die in einem anderen EU-Land leben, können auch wählen. Wer im Heimatland wählen will, kann dies je nach Land auch brieflich tun oder jemanden bevollmächtigen. Teils müssen EU-Bürger in ihr Heimatland reisen, um ihre Stimme abzugeben.
Resultate: Die Auszählung kommt einem Kraftakt gleich. Erste Hochrechnungen sind für den Abend des 26. Mai geplant, die provisorischen Schlussresultate werden in der Nacht erwartet.
Stimmbeteiligung:
1979: 63% (erste EU-Wahl).
2014: 42,6%.
2019: Es liegen keine Prognosen vor. Brüssel hofft aber, dass die Stimmbeteiligung erstmals seit 1979 wieder steigt.
Sie hat viel Potenzial. Aber dass sie die grosse systemische Erneuerung der Demokratie bringen wird, höre ich noch nicht heraus.
Wenn schon, dann eher bei den «Gilets jaunes», der Protestbewegung in Frankreich. Sie gilt nicht gerade als umweltfreundlich, aber sie fordert direkte Demokratie und mehr Mitbestimmung.
In Europa sind ganz klare Tendenzen da, dass die Bürger direkte Kanäle zur Macht einfordern. Und dass Demokratie im 21. Jahrhundert neu gedacht und definiert werden muss.
swissinfo.ch: Zum Schluss noch zur Rolle der Schweiz als mögliche Inspirationsquelle. Mathieu von Rohr, ein Schweizer Journalistenkollege beim deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel», sagte, dass die AfD in Deutschland nie das heutige Gewicht hätte, gäbe es eine bundesweite Volksinitiative nach Schweizer Vorbild. Was sagen Sie dazu?
N.N.: Das ist eine steile These. Aber in fast allen Ländern Europas besteht das Bedürfnis nach mehr direkter Mitbestimmung. Die Schweiz kann durchaus eine Inspiration sein.
Mit ihren Volksrechten, die von unten kommen, macht sie es sicher besser als Grossbritannien mit der Brexit-Abstimmung oder Ungarn mit seinen Abstimmungen. Diese sind Plebiszite, weil von oben angesetzt.
swissinfo.ch: Als Korrespondent sind Sie eine Schweizer Stimme aus Brüssel. Können Sie mit Ihrem Buch jetzt auch eine Schweizer Stimme in Brüssel sein? Was ist Ihre Erwartung an die rund 4000 Journalistenkollegen und die «Bürokraten» in Brüssel – wie werden sie Ihr Buch und Ihre Inputs aufnehmen?
N.N.: Ich ziele mit dem Buch eher auf deutschsprachiges Publikum in der Schweiz, Deutschland und Österreich, das nicht so vertraut ist mit den Feinheiten der Brüsseler Mechanik.
Aber ist stelle durchaus ein Interesse in Brüssel fest. Es gab eine Besprechung im Newsletter der Zeitschrift Politico, die in Brüssel sehr stark gelesen wird. Mitte Mai ist ebenfalls eine Veranstaltung zum Buch geplant. Dort geht es über das Buch hinaus um die Frage, wie mehr Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung erreicht werden könnte.
Man ist sich in der EU-Zentrale durchaus bewusst geworden, dass man den Graben zwischen «Brüssel» und der EU-Bevölkerung überwinden muss.
Es gibt die Initiative Macrons und die Versuche der EU-Spitze mit neuen Verfahren der Bürgerbeteiligung. Aber sie haben noch zu oft den «à la Carte»-Charakter. Ich hoffe, dass das Buch einen Anstoss geben könnte, dass die EU-Spitze hier mutiger voranschreitet.
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