Direkte Demokratie auf dem Prüfstand
Welche Vorteile bringt die direkte Demokratie, wo liegen ihre Grenzen? Dies diskutierten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft am 27. April am Europa Forum Luzern 2015. Im Vordergrund stand die Frage, wie sich Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Prozesse einbringen können. Prominenteste Gäste waren Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg.
19:15 – Hochkarätiges Podium als Schlusspunkt
Zum Abschluss des Europa Forums 2015 im KKL Luzern debattieren Politiker, Wirtschaftsvertreter und eine Politologin zum Veranstaltungsthema direkte Demokratie.
Silja Häusermann, Professorin für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie an der Universität Zürich, sieht die direkte Demokratie als etwas sehr Selbstverständliches in der Schweiz. Nicht nur die Zustimmung zur direkten Demokratie sei in der Schweiz am höchsten, sondern auch die Zustimmung zur Konkordanz, der kompromissorientierten Entscheidungsfindung.
«Es geht uns sehr gut in diesem Lande», sagt Urs Schwaller, Ständerat der Christlichdemokratischen Volkspartei. «Dies wegen der direkten Demokratie.» Jeder Vorstoss auf jeder Ebene bringe die Möglichkeit, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Dies bringe eine enorme Vielfalt.
«Die Schweiz und die direkte Demokratie sind eineiige Zwillinge», sagt Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbandes. Klar sei aber, dass sich jedes System reformieren müsse. Doch rechtsbürgerliche Parteien wie die Schweizerische Volkspartei (SVP) hätten das Thema tabuisiert.
«Die direkte Demokratie ist das faszinierendste und das wertvollste Instrument der Politik in der Schweiz», kontert Lukas Reimann, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei. Er sei durchaus offen für Reformen, «aber nicht für weniger Volksrechte».
18:45 – Die Sicht von aussen
Für Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg, stellt die Praxis der direkten Demokratie «eine echte Inspirationsquelle» dar. Es liege in Baden-Württemberg an der Hand, direkt über die Grenze zu blicken.
Allerdings sei bedauerlicherweise überall eine Entfremdung zwischen der Politik und der Gesellschaft zu beobachten. «Es knirscht im Gebälk der Demokratie.» Die Bürger hätten immer öfter das Gefühl, ungehört zu bleiben, von den Institutionen der eigenen Heimat nicht mehr verstanden zu werden, was sich oft in Fremdenhass oder der Unterstützung von Protestparteien und unrealistischen Anliegen ausdrücke.
Deshalb sei sein Bundesland gegenwärtig daran, direktdemokratische Verfahren zu erarbeiten, um der Bürgergesellschaft wieder mehr Würde und Gewicht zu verleihen. Auf Augenhöhe mit der Politik.
Dabei hätten beide Seiten eine «Bringschuld»: Transparenz in der Kommunikation wie auch Offenheit für Alternativen und für keine Einschränkung der politischen Debatte durch «political Correctness». «Die Frage ist: Wie schaffen wir es, aus Vorurteilen Urteile zu machen?», fragt Kretschmann. «Nur dann, wenn wir eine öffentliche Debatte zulassen.»
18:15 – Die Bundespräsidentin am Mikrofon
Simonetta Sommaruga, Bundespräsidentin und Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), spricht nun an der öffentlichen Veranstaltung des Europa Forums vor rund 1200 Personen im KKL Luzern.
Sie erwähnt, dass kritische Diskussionen über die direkte Demokratie alltäglich seien. «Überall hinterfragt man die Regeln und Systeme – nicht nur in der Politik.» Wer über die Regeln eines Systems diskutiere, stelle nicht das System selber in Frage.
Auch die direkte Demokratie verändere sich ständig, erklärt die Bundespräsidentin. So gebe es die Volksrechte, wie wir sie heute kennen würden, erst seit 1891. «Unsere direkte Demokratie ist kein statisches und starres System, sondern ein lebendiges und im besten Sinne stets umstrittenes System.»
Sommaruga definiert die direkte Demokratie als ein Zusammenspiel zwischen den Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen, dem Parlament und der Regierung. Mehrheitsentscheide würden respektiert, sofern garantiert sei, dass elementare Grundrechte wie etwa die Menschenrechte nicht angetastet würden. Und dies garantiere die Bundesverfassung.
«Unsere direkte Demokratie ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Unsere politische Identität. Dies bleibt aber nur so, wenn weiterhin Rücksicht und Respekt beibehalten werden.»
17:15 – Schlusswort Symposium
Der Ruf nach Bürgerbeteiligung sei vielerorts gestiegen, sagt Moderator Bruno Kaufmann zum Schluss des Symposiums. «Der entscheidende Punkt ist nicht, sich nur zu erzürnen, sondern sich auch darum zu kümmern.»
Nach dem Ende des Symposiums geht es ab 18:15 weiter in Luzern, mit den hochrangigen Gästen Simonetta Sommaruga und Winfried Kretschmann. Bleiben Sie auch über die Pause hinweg am Ball, mit unserem direkten Twitter-Feed von Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Forum.
17:00 – Der Philosoph
«Als Demokraten wissen wir: Das letzte Wort in einer Diskussion ist immer das erste Wort in der nächsten Diskussion», sagt Francis Cheneval, Professor für Politische Philosophie.
16:30 – Diskussionsrunde
Teilnehmende an der Diskussionsrunde neben Adrian Vatter sind René Rhinow, emeritierter Professor für öffentliches Recht und ehemals Ständerat, Peter Keller, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei, und Fanny de Weck, Juristin des aussenpolitischen Forums «Foraus». Das Thema: Spielball direkte Demokratie.
Fazit der Diskussion: Viele der vorher erwähnten Studien wurden lediglich auf kantonaler Ebene durchgeführt. Deshalb brauche es mehr Studien auf Niveau Bundesstaat. Und über Änderungen im System der direkten Demokratie könne ohne Tabus diskutiert werden, denn schliesslich habe das Stimmvolk sowieso das letzte Wort.
Resultat der Publikumsabstimmung: 91% sind der Meinung, die Schweizer direkte Demokratie brauche Reformen. Eine Mehrheit spricht sich für eine stärkere rechtliche Vorprüfung Eidgenössischer Volksinitiativen aus.
16:00 – Einige Thesen
Vor der Diskussionsrunde dieses Nachmittags bringt der Politologe Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, einige Thesen zur Wirkung der direkten Demokratie ins Spiel.
Wie weit ist die Bevölkerung heute von den Abstimmungsthemen überfordert? Sind Abstimmungen in der Schweiz käuflich? Macht direkte Demokratie glücklich? Wird die wirtschaftliche Entwicklung durch Initiativen und Referenden blockiert? Führt die direkte Demokratie zu einer Tyrannei der Mehrheit?
Sein Fazit, abgestützt auf Studien: Je näher das Thema, desto weniger überfordert ist das Stimmvolk. Längst nicht alle Abstimmungen sind «käuflich», aber Geld hilft in vielen Fällen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen direkter Demokratie und Glücklichsein. Die direkte Demokratie führt zu einer besseren wirtschaftlichen Performanz. Und Volksentscheide fallen nicht einseitig zu Gunsten oder zu Ungunsten einer Minderheit.
15:15 – Pascal Couchepin auf dem roten Stuhl
Vor der Pause stellt sich nun der ehemalige Bundesrat und zweimalige Bundespräsident, der Freisinnige Pascal Couchepin, den Fragen von Moderator Bruno Kaufmann und der Teilnehmenden.
«Der Bundesrat ist eine Regierung», sagt er. «Und er soll dem Volk sagen, was er denkt.» Die direkte Demokratie sei als Spielregel zu betrachten. Und sie sei ein fantastisches Mittel, um Informationen zu verteilen, glaubt er. «Für mich ist es ein Wunder, dass das Schweizer Volk diese Spielregel immer akzeptiert.»
Er habe 23 Abstimmungen geführt und 21 davon gewonnen. «Deshalb bin ich nicht unzufrieden mit diesem System.» Es gebe hingegen immer mehr Initiativen, die praktisch unmöglich umzusetzen seien, so Couchepin. Da müsse der Finger drauf gelegt werden. Die Schweiz sollte aber auch «Mitglied der internationalen Gemeinschaft sein. Sonst verliert sie an Bedeutung».
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14:45 – Die Wirtschaft hat das Wort
Unter der Leitung von Moderator Bruno Kaufmann diskutieren jetzt Pierin Vincenz, CEO der Raiffeisen-Bankengruppe, und Urs Berner, Verwaltungsratspräsident und CEO der Werkzeugfabrik Urma, über den Einfluss der direkten Demokratie auf die Wirtschaft.
Die Wirtschaft erlebe die «Initiativenflut», die zunehmende Anzahl von Volksinitiativen, als einzelne «Nadelstiche», sagt Urs Berner. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch ärger wird», betont er.
Pierin Vincenz erlebt die zunehmenden Initiativen eher als «Wahlkampf-Instrument», das aber auch positiv genutzt werden könne. Die Wirtschaft müsse mehr politisch partizipieren, «mit der Politik mithelfen», um Verlässlichkeit im Lande zu haben und für die Wirtschaft nachteilige Initiativen zu verhindern.
«Jede Initiative kostet Energie», sagt Berner. «Diese Energie fehlt uns anderswo.» Wenn er jedes zweite Wochenende irgend an einem Podium für den Werkplatz Schweiz kämpfen müsse, zehre das sehr an der Energie seines Unternehmens. Er möchte bei Initiativen «die Latte höher legen».
«Die Wirtschaft muss in einer direkten Demokratie viel mehr am Puls des Volkes sein», betont Vincenz. «Dieser Prozess wird in einer digitalisierten Welt noch viel wichtiger.» Die direkte Demokratie werde durch die Communities von der Digitalisierung selber beeinflusst werden. In diese Richtung sei nun zu denken.
14:15 – Der ehemalige Staatssekretär
Michael Ambühl, Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement sowie seinerzeit Verhandlungsführer der Eidgenossenschaft bei den Bilateralen Verträgen II, hat nun das Wort. Er stellt vor den rund 270 Teilnehmenden, darunter 40 Studierende, die Frage: Beeinflusst die direkte Demokratie aussenpolitische Verhandlungen?
Sein Fazit: Ja, sie hat einen grossen Einfluss darauf. Bestimmend sei zuvorderst das Regierungssystem. Das Parlament überwache die Regierungsgeschäfte. Das Verhandlungsmandat müsse den wichtigen politischen Interessen des Landes entsprechen. Und der Bundesrat (Landesregierung) müsse seine Verhandlungsergebnisse vor dem Parlament – und damit auch vor dem Volk – rechtfertigen.
Allerdings habe die Schweiz seiner Meinung nach das Feld in aussenpolitischen Verhandlungen «gelegentlich dem entschlossener auftretenden Gegenüber überlassen». Besonders das typisch schweizerische Verhaltensmuster der Konsensfindung und Konfliktvermeidung wie auch die Bescheidenheit führten zu dieser manchmal schwachen Position bei Verhandlungen. Man müsse zeigen können: «Wir spielen positiv mit.»
Abhilfe könnten Massnahmen bieten, die keine grossen systemischen Änderungen bedingten. Beispielsweise, dass die aussenpolitische Koordination in Bundesrat, Verwaltung und Parlament gestärkt werde. Oder die Gründung einer «Swiss School of Public Governance».
14:00 – Reibungsflächen der Demokratie
Die Demokratie gewährleiste die Legitimität von Normen, erklärt Christoph Errass, Jura-Titularprofessor an der Universität St. Gallen. Durch internationales Recht könnten nun nationale Zuständigkeiten verloren gehen. Deshalb müsse nach Demokratie-Möglichkeiten jenseits des Staates gesucht werden, «da angesichts der vielfältigen internationalen Interdependenzen (z.B. Terrorismus, Ozonschicht, Schweinegrippe, Finanzkrise) eine nationale Abschottung keine Lösung darstellt».
Verschiedene Ansatzpunkte, die gegenwärtig diskutiert würden, versprächen aber noch keine Patentlösungen. Dabei werde etwa von einer kosmopolitischen Demokratie gesprochen. Andere Konzepte gingen davon aus, Demokratie sei jenseits des einzelnen Staates gar nicht möglich.
13:30 – Erster Vortrag
Andreas Glaser, Professor für Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich, spricht in einem ersten Vortrag unter anderem über die Volksinitiative als Instrument der Europapolitik. Seine These: Die Volksinitiative ist nicht per se integrationsfreundlich oder -feindlich. Sie sei schlicht ein Spiegel der Verhältnisse. Eine Einschränkung des Initiativrechts, wie in letzter Zeit oft angesprochen, sei nicht angebracht.
13:10 – Das Forum beginnt
Das Eröffnungswort hält Reto Wyss, Regierungspräsident des Kantons Luzern. Er greift praktisch das Bonmot von Günter Grass auf und konzentriert sich in seiner Rede auf die berüchtigte «Langsamkeit» der direkten Demokratie, die aber auch ihre Vorteile habe.
«Direkte Demokratie wohin?», fragt Bruno Kaufmann, Mitorganisator und Chefredaktor von People 2 Power. 135 Staaten der Welt würden mit demokratischen Strukturen in Verbindung gebracht. 103 dieser Staaten praktizierten direkte Demokratie.
Die Praxis aber sehe anders aus. Demokratie werde eher in Provinzen und Gemeinden praktiziert. Das beste Beispiel sei Deutschland. Generell aber würden sich weltweit immer mehr Menschen an direktdemokratischen Prozessen beteiligen.
13:00 – Der Saal füllt sich
Demokratie bestehe aus «demokratischen Kleinkram betreiben. Kompromisse anstreben». So kurz und prägnant brachte es der kürzlich verstorbene Günter Grass auf den Punkt. Am Europa Forum in Luzern versuchen sich am 27. April Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, dem Thema direkte Demokratie anzunähern. Es ist jetzt 13 Uhr, und der Saal beginnt, sich zu füllen.
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