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Federico Sturzenegger: «Wir glauben, dass die Freiheit den Wohlstand nach Argentinien zurückbringt»

Federico Sturzenegger im Interview mit SWI swissinfo.ch.
Der Ökonom Federico Sturzenegger gilt als Kopf hinter der wirtschaftspolitischen Linie von Javier Milei. SWI swissinfo.ch

Der Wirtschaftsberater von Javier Milei verteidigt im Interview mit SWI swissinfo.ch den umstrittenen Kurs des argentinischen Präsidenten und schildert seine Sicht auf die politische Situation im Land.

Der argentinische Präsident Javier Milei ist im Wahlkampf gerne mit einer Kettensäge aufgetreten. Das Werkzeug fürs Grobe sollte vermitteln: Hier kommt einer, der aufräumen will. So versprach er unter anderem die Schliessung von so essenziellen Einrichtungen wie dem Gesundheitsministerium.

Seit er Argentiniens Präsident ist, hat Milei damit begonnen seine Sparpolitik, die die grosse Inflation in den Griff bekommen soll, umzusetzen.

Mileis Partei kommt im Kongress nur auf 14%Externer Link der Sitze und entsprechend ist die Regierung auf die Stimmen Anderer angewiesen. Und sie erhält sie. Eine Variante von Mileis «Grundlagengesetz», das unter anderem die Privatisierung der Post und der AbwasserversorgungExterner Link vorsieht, wurde vom Kongress kürzlich angenommen.

Protest gegen Javier Milei am 1. Mai 2024
«Es hat kein Geld» steht auf dem Plakat dieser Karikatur von Javier Milei, mit der ein Demonstrant am 1. Mai gegen die Regierung protestiert hat. KEYSTONE/Copyright 2024 The Associated Press. All rights reserved

Obwohl Milei weiterhin viele Unterstützer:innen hat, nehmen auch die Demonstrationen zu. Im April gingen Hunderttausende auf die Strassen. Ein Treiber der Proteste ist, dass die öffentlichen Universitäten infolge von Mileis Kurs etwa zwei Drittel ihrer Kaufkraft verlieren.

Neben der Wirtschaftspolitik sorgt auch der Umgang dieser Regierung mit der argentinischen Geschichte, vor allem mit den Verbrechen der Militärdiktatur, national und international für Kritik. «Javier Milei will eine neue Vergangenheit», titelte beispielsweise die liberale Neue Zürcher Zeitung am 2. Mai.

Der Wirtschaftswissenschaftler Federico Sturzenegger, unter anderem ehemaliger Präsident der argentinischen Zentralbank, gilt als Architekt von Mileis wirtschaftlichem Programm.

Im Interview mit SWI swissinfo.ch verteidigt Sturzenegger den umstrittenen Kurs des Präsidenten und schildert seine Sicht auf die politische Situation in Argentinien.

SWI swissinfo.ch: Federico Sturzenegger, Sie sind Wirtschaftsberater der Regierung von Javier Milei. Was ist der beste erste Schritt, um die Inflation zu senken?

Federico Sturzenegger: Den höchsten Preis für die Inflation zahlen die Ärmsten in der Gesellschaft. Sie ist wie eine ungerechte Steuer. Aus diesem Grund lohnt sich jeder Versuch, die Inflation zu senken.

Javier Milei hat beschlossen das Haushaltsdefizit anzugehen – das Herz des Problems. Die alte Regierung musste mit der Zentralbank Geld ausschütten, um das Steuerdefizit auszugleichen. Dies hat uns in die Inflation geführt.

Milei ist aussergewöhnlich engagiert für einen ausgeglichenen Haushalt. Obwohl im Januar und Februar noch ein Defizit war, hat er bereits einen Überschuss erzielt. Ist das Fiskaldefizit gelöst, gibt es keinen Treiber der Inflation mehr.

Damit endet auch der Zahlungsverzug und die wiederkehrende Verhandlung der internationalen Schulden. Als Milei die Regierung übernommen hat, lag das Länderrisiko bei der WeltbankExterner Link bei gut 2500 Punkten – bereits ist es nur noch etwa halb so hoch. Für mich ist das vielversprechend.

Das Kabinett von Javier Milei
Das Kabinett von Javier Milei präsentiert sich auf einem offiziellen Foto. Federico Sturzenegger steht direkt zu seiner Rechten. X/Argentinische Regierung

SWI: Manche von Mileis Sanierungsplänen, die wie ein Schock wirken sollen, ignorieren oder vernachlässigen die Gesetzeslage in Argentinien. Glauben Sie, dass angesichts der aktuellen Situation die demokratischen Regeln beiseitegelegt werden müssen?

FS: Nein, überhaupt nicht. Ich denke, wir sind alle zutiefst verpflichtet, unsere Demokratie zu respektieren. Ohne Zweifel. Tatsächlich durchläuft Argentinien derzeit ein aussergewöhnlich demokratisches Momentum.

Ich war von 2013 bis 2015 Abgeordneter in einer Partei des konservativen Mauricio Macri, als die Unterstützenden von Cristina Fernandez de Kirchner in beiden Parlamentskammern die Mehrheit hatten.  Wir sagten damals, «Der Kongress ist eine Schreibstube» – weil der Kongress einfach genehmigte, was die Regierung wollte.

Es gab keine Gewaltenteilung. Der Kirchnerismus bedeutete meiner Meinung nach einen systematischen Angriff auf die Justiz.

Nestor Kirchner und Cristina Kirchner winken.
Das Ehepaar Nestor (verstorben 2010) und Cristina Fernandez de Kirchner prägten beide Argentinien als Präsident:innen. Sie gehören der peronistischen Parteienfamilie an und standen für einen linken Kurs des Geldausgebens, der den ärmsten Teilen der Bevölkerung Unterstützung bescherte. Dies hat den Begriff «Kirchnerismus» geprägt. 2022 ist Cristina Fernandez de Kirchner erstinstanzlich wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel verurteilt worden. KEYSTONE

Wir haben eine sehr dunkle Periode hinter uns, eine Regierung, die nicht an die Demokratie glaubte und die während 20 Jahren alles unternahm, um sie zu zerstören.

Aber jetzt ist die Situation von Javier Milei interessant. Es ist eine Regierung, die relativ wenige Sitze in beiden Kammern hat, sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat. Das zwingt die Regierung zum ständigen Ringen um Mehrheiten, zu einer echten Demokratie. Heute erlebt Argentinien einen der lebhaftesten demokratischen Momente.

Die Demokratie bedeutet: Das Volk wählt eine Regierung, tauscht die Hälfte des Unterhauses und ein Drittel des Senats aus – und die Justiz ändert sich nicht. Die verschiedenen Säulen der Demokratie sind wie Stossdämpfer: Die Regierung drängt auf das, was die Gesellschaft fordert, und begegnet diesen Stossdämpfern, die bewirken, dass sich die Änderungen in einem Rhythmus entwickeln, den die Gesellschaft verdauen oder tolerieren kann.

Ich denke, das ist ein sehr gesundes und vielfältiges Spiel, das wir mit diesen Institutionen haben.

SWI: Und all diese Gesetze, die Argentinien auf irgendeine Weise reformieren werden, werden im Parlament entschieden. Oder setzt die Regierung etwa einfach auf Notstandsdekrete und regiert mit De-Facto-Macht?

FS: Nein. Zum Beispiel haben wir unser «Grundlagengesetz» dem Kongress vorgelegt. Jetzt wurde dieses Gesetz im demokratischen Prozess neu formuliert. Die Regierung schickt die Vorlagen weiterhin in den Kongress.

Javier Milei
Der argentinische Präsident Javier Milei spricht Anfang April an einer Konferenz in den USA. KEYSTONE

SWI: Denn selbst im hyperpräsidentiellen Argentinien, wählt das Volk auch das Parlament.

FS: Natürlich. Wir gehen mit grosser Begeisterung in die parlamentarische Debatte.

SWI: Wie glauben Sie, dass die Gesellschaft reagieren wird? Ich frage nach den Reaktionen auf die gesellschaftliche Verarmung.  

FS: Die Verarmung ist bereits passiert. Als Argentinien mit diesem interventionistischen Modell des Regulierungsstaates begann, der alles lösen sollte, gab es eine Armut von 5% und heute gibt es mehr als 50% Armut. Was uns in die Armut geführt hat, ist das Modell der staatlichen Intervention. Das führte zur Stagnation, das führte dazu, dass wir ein mittelmässiges Land wurden, welches unsere Kinder verlassen, weil sie hier keine Zukunft haben.

Das müssen wir ändern. Es ist ein schrecklicher Trugschluss, dass der Staat die Probleme der Gesellschaft löst. Wenn der Staat mehr ausgibt, woher kommt dann das Budget, das der Staat vorgeblich «für das Wohl des Volkes» verwenden soll? Wer gibt es?

SWI: Es kommt von den Steuern, die die Bürger:innen zahlen.

FS: In der Tat. Was früher passiert ist: Der Staat hat das Geld behalten, das die Bürgerinnen und Bürger ihm gegeben haben. Für seinen eigenen Vorteil.

Die Leute haben gesagt: «Genug! Ich möchte kein System, kein Land, in dem meine Kinder keine Zukunft haben und darum auswandern.» Also haben sie dem Präsidenten den Auftrag gegeben, etwas zu ändern.

Deswegen glaube ich, dass die Menschen verstehen, dass der Präsident diesen Kampf für sie führt. Die Ergebnisse sind gut. Wir glauben, dass die Freiheit den Wohlstand nach Argentinien zurückbringen wird.

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SWI: Was sagen Sie zu den Protesten gegen die Regierung, die immer wieder stattfinden?

FS: Es überrascht mich nicht, dass diejenigen verärgert sind, die sehen, dass ihre Privilegien angegriffen werden. Aber diese Privilegien fallen nun zum Nutzen der grossen Mehrheit.

Szene eines Protestes gegen die Regierung von Javier Milei.
Eine Gewerkschafterin, die gegen die Politik von Javier Milei demonstriert, trifft auf die Polizei. KEYSTONE

SWI: In Argentinien leben viele Menschen mit Schweizer Wurzeln. Sie gehören zu den Wenigen von ihnen mit politischem Einfluss. Welche Beziehung haben Sie zur Schweiz?

FS: In der Schweiz war ich vor allem als Präsident der Zentralbank – vor allem in Basel, wo auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ ihren Sitz hat.

Familiär habe ich keine Verbindungen mehr zur Schweiz. Aber ich empfinde Bewunderung, für dieses geordnete, wohlhabende und produktive Land. Mein Grossvater war Schweizer. Der Name «Sturzenegger» stammt aus dem Dorf Reute in Appenzell-Ausserrhoden. Auf dem Dorfriedhof ist es heute der häufigste Nachname.

Meine Urgrosseltern wanderten bereits im 19. Jahrhundert nach Argentinien aus. Der Schweizer Anteil ist also gar nicht so gross. Ich habe zu 50% italienische, zu 25% spanische und zu 25% Schweizer Wurzeln. Das macht mich zu 100% zum Argentinier – ein Nachfahre verschiedener europäischer Gemeinschaften.

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