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Jüngster Schweizer Kanton ist auch mit 40 noch nicht (ganz) erwachsen

francois lachat à delémont
François Lachat kündigte am 24. September 1978 offiziell die Annahme der Schaffung des Kantons Jura an. Keystone / Str

Der 1979 geborene jüngste Schweizer Kanton verdankt noch immer einen grossen Teil seines politischen und wirtschaftlichen Schicksals dem föderalen System, in das er eingebunden ist.

Vor vier Jahrzehnten versammelten sich in Delémont [Delsberg], der kleinen Hauptstadt des Kantons Jura im Nordwesten der Schweiz Tausende Menschen auf der Place de la Liberté [Freiheitsplatz], um die Geburt einer Nation zu feiern. «Bürgerinnen und Bürger, Sieg!», erklärte François Lachat, der Gründervater des Kantons in feierlichem Ton.

Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, Verhandlungen und einem Referendum war der Jura von seinen 25 neuen Geschwistern als eigene Einheit akzeptiert worden, und am 1. Januar 1979 trennte er sich vom Kanton Bern und wurde zum jüngsten Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft.

Vierzig Jahre später steht auf dem Platz noch immer die gleiche, inzwischen fast 200 Jahre alt gewordene Linde, umgeben von leicht abschüssigen Pflastersteinen. Auch der noch ältere Berner Brunnen, ein ironisch anmutender Hinweis auf die ehemalige Besatzungsmacht, steht immer noch vor der Treppe zum Rathaus. Nur eine fotofreundliche Familie chinesischer Touristen, vermutlich eine Rarität in den 1970er-Jahren, lässt erahnen, dass seither Zeit vergangen ist.

Und in der Tat ist Zeit verstrichen: Nicht viel, aber im Fall des Juras genug, um einen funktionierenden Kanton und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, was mit viel Arbeit verbunden war: zum Beispiel realistische Budgets, ein Steuersystem, Beamte und Beamtinnen, Nummernschilder, Ausweise, Strassen und Beziehungen zur Aussenwelt.

Wie geht eine neu geschaffene politische Einheit solche Aufgaben an?

Einmaleins der Nationenbildung

Mit Mühe und nicht über Nacht, erklärt Fabien DunandExterner Link, ein ehemaliger Journalist, der 1979 in Delémont bei den Feierlichkeiten dabei war und 2015 eine Lachat-Biographie schrieb.

Nach der Sicherung der politischen Ziele, sagt Dunand gegenüber swissinfo.ch, seien drei Dinge unerlässlich gewesen, um den neuen Kanton zum Leben zu erwecken: Beamte und Beamtinnen, die Infrastruktur, die ihnen die Arbeit ermöglichte, und – vor allem – Geld.

Der erste Bedarf wurde durch die massive Begeisterung unter den Bürgern und Bürgerinnen gedeckt: Für die Besetzung von 450 Stellen im öffentlichen Dienst gingen mehr als 4000 Bewerbungen ein (bei einer Bevölkerung von rund 70’000 Personen). Das zweite Problem wurde, zumindest vorerst, durch Improvisation gelöst: Die neue Verwaltung des Kantons Jura nahm ihre Arbeit in Wohnblöcken auf; Holzkisten dienten als Schreibtische, die Arbeitszeiten waren lang.

Bargeld hingegen war eine kniffligere Sache. Das ging nicht ohne einen demütigen Gang nach Bern, für eine Anstosshilfe, die beinahe nicht zu Stande gekommen wäre: Die Bundeskanzlei hatte ein «Startdarlehen» in Höhe von 40 Millionen Franken zunächst abgelehnt.

Nur Lachats spontane Drohung, dass der Jura dann am 1. Januar 1979 nicht unabhängig werden würde, führte dazu, dass die Mittel letztlich freigegeben wurden, zinslos. Dies ermöglichte dem Jura, sich an die grössten Schweizer Banken zu wenden, für weitere 80 Millionen für Investitionen in Spitäler, Schulen, das Justiz- und das Polizeiwesen.

Was wäre passiert, wenn der Jura das Geld nicht hätte auftreiben können? Schwer zu sagen. Auch mit dem Geld, schreibt Dunant, habe Lachat, der sowohl Finanzminister als auch Präsident der ersten Regierung des Kantons war, die Kontenbücher jeden Freitagabend mit dem drohenden Schrecken eines Bankrotts schliessen müssen. Dies habe ihn veranlasst, in den ersten sechs Monaten einige drastische Massnahmen zu ergreifen.

«Ich habe angeordnet, dass harte Arbeit teilweise das Heizöl ersetzen sollte», sagte Lachat (halb) im Scherz. «Ich bat darum, dass die Zimmertemperatur nicht mehr als 18 Grad betragen sollte. Zwei Tage später arbeiteten die Sekretärinnen mit Halstüchern und Handschuhen ohne Fingerspitzen. Wir haben die Idee dann rasch wieder aufgegeben.»

Drapeau jurassien
© Keystone / Jean-christophe Bott

Nicht ganz ein Paradies auf Erden

In der Tat ist harte Arbeit mehr als nur ein Euphemismus, wie alle, die einmal im eher ungewöhnlichen Job für den Aufbau eines Landes tätig waren, vermutlich bestätigen werden. Beamte und Beamtinnen und vor allem Regierungsmitglieder (und insbesondere Lachat) arbeiteten bis zur Erschöpfung, um die neue Verwaltung auf die Beine zu stellen.

«Nach ein paar Monaten Arbeit war ich tot», sagte Lachat. «Niemand hat die Stunden gezählt».

Oder, wie sein Kollege Jean-Paul Beuret, der erste Wirtschaftsminister des Kantons Jura, es ausdrückte: «Der Aufbau eines Staates ist nicht eben ein Ticket zum Paradies auf Erden.»

Unter anderen mussten Autonummernschilder organisiert und gedruckt werden (eine der wichtigsten frühen Aufgaben, erklärt Dunand; die Bürger und Bürgerinnen waren sehr enthusiastisch, das symbolische «JU» auf ihren Autos zu haben).

Zudem mussten Steuern festgelegt und eingezogen werden (der Jura hatte in dieser Zeit eines der härtesten Steuerregimes in der Schweiz, um dringend benötigtes Einkommen zu generieren). Daneben mussten Investoren angelockt und in den Kanton gebracht werden (der Jura ist, war, geografisch ziemlich isoliert und unterentwickelt).

Und all dies, ohne die heiklen Fragen nach Ressourcen aufzuwerfen, die es im Kanton bereits gab, der zuvor vom benachbarten Bern regiert worden war. Wem gehört das von Bern gebaute Spital, das sich jetzt im autonomen Kanton Jura befindet? Wem gehört das Gefängnis, wer soll die Aufsicht der Gefangenen bezahlen? Dies waren Fragen, die erst nach sechs Jahre langen, aufreibenden Verhandlungen geklärt wurden.

Fortschritt verfolgen

Vier Jahrzehnte später nun die Frage, haben die «vom Schicksal begünstigten» (Dunants Beschreibung von Lachat) Anstrengungen der jurassischen Polit-Pioniere funktioniert?

Als swissinfo.ch den heutigen Finanzminister Charles Juillard in seinem Büro trifft, trägt dieser ein kurzärmliges Hemd; und er hat nicht nur einen, sondern gleich zwei Schreibtische, an denen er arbeiten kann. (Das Ministerium selbst, am Stadtrand von Delémont, ähnelt immer noch verdächtig einem Wohnblock.)

Juillard war 16 Jahre alt, als der Kanton geboren wurde. Heute 56, war er die vergangenen 13 Jahre Finanzminister. Dies sind zwei Jahre weniger, als die verfassungsmässige Obergrenze für dieses Amt, das er bald aufgeben will; diesen Oktober tritt er bei den nationalen Wahlen für einen Sitz im Ständerat an.

Nach vierzig Jahren Kanton Jura sehe er deutliche Fortschritte, so sehr, dass sich eine «Art Normalisierung» eingeschlichen habe, erklärt Juillard. Der Jura habe sich an seine Autonomie, an die Suche nach Lösungen für die eigenen Probleme und die Arbeit innerhalb des föderalistischen Systems der Schweiz gewöhnt.

«Aufholinvestitionen» in den vergangenen Jahrzehnten ermöglichten dem Kanton, sich von einer «vergessenen» Ecke des Kantons Bern zu einer Einheit zu entwickeln, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt, wie er sagt: Grossprojekte wie die äusserst wichtige Autobahn durch die Region ins benachbarte Frankreich, wären unter Umständen nicht gebaut worden, hätte der Jura nicht die Möglichkeit gehabt, sich als Kanton für seine Anliegen bei den nationalen Behörden in Bern stark zu machen.

Und nach Ansicht des Historikers Christoph Koller, der jüngst in der Westschweizer Tageszeitung Le Temps, schrieb, leidet der Jura keineswegs an einer Midlife-Wirtschaftskrise: Trotz Schwierigkeiten im Verlauf der Jahre ist der Produktionssektor (vor allem Uhren und Maschinenteile) nach wie vor stark und beschäftigt noch immer über 40% der Arbeitskräfte, während der Tertiärsektor (Dienstleistungen) zwischen 1975 und 2016 sehr stark zulegte, von 32% auf 56% der Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist mit 4,6% niedrig.

Zudem kommen Tausende von Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus den Nachbarländern Frankreich und Deutschland jeden Tag zur Arbeit in die Region.

[Zum Vergleich, insgesamt sind 21,5% der Schweizer Arbeitskräfte im sekundären oder verarbeitenden Sektor tätig, 78% im Tertiärsektor; die nationale Arbeitslosenquote liegt bei etwa 2%.]

Juillard erwähnt auch die vergleichsweise niedrige Verschuldungsrate des Kantons und erklärt schliesslich, der «Jura ist heute ein Kanton wie fast alle anderen» – wobei das vorsichtige fast ein Hinweis auf die politische, nicht die wirtschaftliche Situation der Stadt Moutier ist.

Diese hatte 2017 in einer Abstimmung entschieden, den Kanton Bern zu verlassen und sich dem Jura anzuschliessen. Nach Rekursen wurde die Abstimmung jedoch annulliert. Seit diesem Entscheid ist die Stimmung in der Stadt angespannt. Wie es weiter gehen wird, ist zur Zeit noch offen.

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Kämpfe auf Bundesebene

Alles in allem ist der Kanton Jura sicher noch nicht über den Berg. Obschon Juillard darauf besteht, dass die «Wirtschaft gut läuft», bleibt seine Region die nationale Nachzüglerin.

Jedes Jahr wird im Rahmen des «FinanzausgleichssystemsExterner Link» in der Schweiz ein riesiger Geldtopf geäufnet, in den die reichen Kantone (jene mit einem hohen «Ressourcenpotential», wie es im Jargon heisst) Geld einspeisen, das dann an die ärmeren Kantone verteilt wird, damit diese ihre Bilanzen überbrücken und in ihre Infrastrukturen investieren können. Wie wir jüngst berichteten, zahlen treibende Kräfte wie Zug und Zürich die grössten Beiträge ein, während der Kanton Jura ausnahmslos der grösste Empfänger bleibt.

«Es [das Finanzausgleichssystem] ist sehr wichtig für uns», erklärt Juillard. Von den kantonalen Ausgaben von insgesamt rund 930 Millionen Franken pro Jahr kommen etwa 160 Millionen aus dem gemeinsamen Bundestopf – eine beträchtliche Abhängigkeit.

Juillard sagt jedoch auch, das föderale System helfe dem Jura zwar einerseits, mit seinen Auslagen und seiner schwierigen geografischen Lage zurechtzukommen, ziehe andererseits aber auch zusätzliche Arbeit und Kosten nach sich.

Bern treffe Entscheidungen auf nationaler Ebene, die auf regionaler Ebene umgesetzt werden müssten, gebe aber nicht immer, was die Kantone brauchten, um solche Auslagen zu decken, sagt Juillard. Er erwähnt Asylrecht und Arbeitslosigkeit als Beispiele für kostspielige Politiken des Bundes, die teilweise von den Kantonen bezahlt werden.

Er stöhnt auch über die jüngste Revision des Finanzausgleichssystems, in dessen Rahmen die reicheren Kantone (ab 2020) etwas weniger einspeisen und die ärmeren Kantone etwas weniger erhalten werden. «Das ist für die schwächeren Kantone nicht gut», sagt Juillard. «Wir haben insgesamt ein gutes Umverteilungssystem, aber wir müssen sicherstellen, dass es gut bleibt.»

Er kritisiert, dass die Bundesbehörden, die zur Zeit auf grossen wirtschaftlichen Überschüssen sitzen, nicht mehr täten, um die Fehlbeträge zu decken.

Dies belegt einmal mehr, dass es im Spiel der Schweizer Politik immer eine gewisse Feindseligkeit zwischen Bundesbern und den Kantonen geben wird, die ihre Unabhängigkeit vehement hüten, während sie sich gleichzeitig für alle Arten von Koordination und Hilfe auf das Zentrum verlassen.

In der Tat könnte man sagen, dass der Föderalismus, wie es Dunand ausdrückt, in Bezug auf Geschichte und aktuelle Geschicke des Juras (wie bei den anderen Kantonen) sowohl Hilfe als auch Behinderung war.

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(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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