Chancen für einen ernsthafteren Umgang mit Demokratie
In Österreich muss die Wahl des neuen Bundespräsidenten wiederholt werden. Mit diesem Entscheid hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein mittleres Erdbeben ausgelöst. Was das Verdikt für die Demokratie unserer östlichen Nachbarn bedeutet, kommentiert Erwin Leitner von "mehr demokratie österreich!".
Das VfGH-Urteil richtet sich gegen schlampigen Umgang mit Wahlvorschriften. Dieses Urteil muss aber zu Ende gedacht werden. Der besonders strenge Massstab für die Wahlauszählung muss nämlich erst recht auch für einen qualitätsvollen Wahlkampf gelten.
Erstmals in einer westlichen Demokratie hat der österreichische Verfassungsgerichtshof am 1. Juli 2016 eine Wahl zur Gänze aufgehoben. Die Stichwahl zwischen den beiden Bundespräsidentschafts-Kandidaten Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer muss daher im Herbst nochmals durchgeführt werden.
Das Wahlergebnis vom 22. Mai 2016 war äusserst knapp und wurde daher von der rechtsnationalen FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) und Norbert Hofer angefochten. Der Gegenkandidat Alexander Van der Bellen von den Grünen wurde im Wahlkampf von allen anderen Parteien unterstützt.
Die FPÖ vermutete daher, dass der knappe Wahlsieg nur durch Manipulationen bei den Briefwahlkarten zustande gekommen ist, wo Van der Bellen einen deutlichen Überhang hatte. In den Social Media haben sich Verschwörungstheorien über Wahlmanipulationen ausgebreitet.
Erstmals in seiner bisher fast hundertjährigen Geschichte hat der VfGH vor einem Urteil tagelang Zeugen transparent und öffentlich einvernommen. Der VfGH ist jedem einzelnen Vorwurf penibel nachgegangen, um jeglichem Zweifel an der Sachlichkeit seiner Entscheidung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Keine Wahlmanipulation
Konkrete Manipulationen und konkreter Wahlbetrug wurde jedoch in keiner der zahllosen Zeugenaussagen behauptet. Der VfGH ist aber seiner besonders strengen Rechtsprechung treu geblieben. Demnach reicht für eine Wahlaufhebung bereits die blosse Möglichkeit, dass ein Verstoss gegen Wahlvorschriften das Wahlergebnis beeinflusst haben konnte.
Vielfach erfolgte etwa – wie auch schon bei früheren Wahlen – die Auszählung der Briefwahlkuverts ohne Anwesenheit der amtlich bestellten Wahlbeisitzer. Theoretisch hätten also Manipulationen passieren können. Die seit Jahrzehnten praktizierte vorzeitige Weitergabe von Teilergebnissen an Journalisten, Hochrechner und Parteien sieht der VfGH schon für sich alleine als Aufhebungsgrund der Wahl an, weil dies die Wahlteilnahme und somit das Wahlergebnis beeinflussen konnte.
Qualitätskriterien auch für Wahlkämpfe
Die Ermittlung des Wahlergebnisses muss über jeglichen Zweifel erhaben sein, um Legitimität zu erzeugen. Es ist daher konsequent und richtig, dass das Verfassungsgericht dem weit verbreiteten laschen und schlampigen Umgang mit Wahlvorschriften deutlich entgegentritt. Und dass es Ernsthaftigkeit im Umgang mit demokratischen Prinzipien einfordert, die eine faire und korrekte Ermittlung des Wahlergebnisses sicherstellen.
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— swissinfo.ch (@swissinfo_de) 1. Juli 2016Externer Link
Ist das ein guter oder ein schlechter Tag? #bpw16Externer Link
MfGhttps://t.co/3AqN4PfQSIExterner Link
Dieses VfGH-Urteil muss jedoch zu Ende gedacht werden. Der strenge Massstab darf nicht nur an die Wahlauszählung, also nicht nur an das Ende des Wahlverfahrens, angelegt werden. Gerade auch der Wahlkampf VOR der Wahl muss den ernsthaften Umgang mit demokratischen Entscheidungen widerspiegeln und hohen qualitativen Massstäben genügen.
Dazu sind die Regelungen in Österreich bislang aber unzureichend und nicht gesetzlich verankert, sodass Wahl für Wahlen immer wieder aufs Neue Fairnessabkommen zwischen den Kandidaten abgeschlossen werden oder eben auch nicht.
Es bedarf in Österreich endlich einer Debatte, welches Qualitätsniveau in Wahl- und Abstimmungsdebatten für einen gültigen Wahlerfolg nicht unterschritten werden darf und welche Wahlkampf-Fouls nicht begangen werden dürfen. Dazu muss es jetzt zu einer klaren gesetzlichen Regelung kommen. Sonst wird künftig jede Wahl angefochten werden.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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