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«Autokratisierung bringt die Demokratien in Gefahr»

Ungarns Premier Viktor Orban
Wo genau befindet sich Viktor Orban auf seiner Autokratisierung Ungarns? Das ist angesichts seines graduellen Abbaus der Demokratie schwierig zu sagen. Dies zeigt auch die bisher ratlose Haltung der EU gegenüber dem Mitgliedsland. Copyright 2018 The Associated Press. All Rights Reserved.


Was jetzt? Ist Demokratie ein Auslaufmodell und die Autokraten sind am Übernehmen? Tatsächlich erlebt die Welt aktuell eine Welle der Autokratisierung. Und tatsächlich geht sie auf Kosten der Demokratien. Aber noch immer sind über die Hälfte aller Länder Demokratien. Dies das Ergebnis der ersten Langzeitstudie zu Demokratisierung und Autokratisierung seit 1900.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

Drei Wellen von Demokratisierung, jeweils gefolgt von einer Welle der Autokratisierung: Dies die globale politische Entwicklung von 1900 bis 2017, welche die Politikwissenschaftler Anna Lührmann und Staffan LindbergExterner Link – erstmals in dieser Form – aufzeigen.  

Lindberg ist Direktor des V-Dem InstituteExterner Link an der schwedischen Universität Göteborg, Lührmann Vizedirektorin. V-Dem steht für «Varieties of Democracy», dem grössten internationalen Forschungsprogramm zur Messbarkeit von Demokratie-Qualität. Ihm sind rund um den Globus 3000 Forschende angeschlossen.

Lindberg und Lührmann bringen ihre Ergebnisse in der unten stehenden Grafik (in Englisch) zum Ausdruck. Die unterbrochene graue Linie zeigt die Demokratisierung, die dicke schwarze Linie die Autokratisierung in den letzten 117 Jahren.


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Demokratien angefressen

Die aktuelle, dritte Welle der Autokratisierung bringt laut den Autoren eine Neuerung mit sich, die es in sich hat: Während früher Autokratisierung meist in Ländern stattfand, die sowieso schon autokratische Züge aufwiesen, geschehe dies heute meist in Demokratien.

Anders gesagt: autokratische Regimes kamen einst meist durch eine Invasion fremder Truppen oder einen Militärputsch an die Macht. Heute geschieht der Abschied von der Demokratie schleichend und unter einem legalen Deckmantel.

Was ist Autokratisierung? 

Die Autoren bezeichnen Autokratisierung als gegenläufige Entwicklung von Demokratisierung.

Autokratisierung verläuft graduell sowohl in Demokratien als auch in Autokratien.

Autokratisierung bezeichnet eine Konzentration von Macht in den Händen eines starken Führers. Dieser nimmt für sich in Anspruch, den «Willen des Volkes» zu kennen und in seinem Namen zu regieren.

Gerne werden garantierte Grundrechte wie die Medienfreiheit und demokratische Grundprinzipien wie die Gewaltentrennung ausser Kraft gesetzt.

Autokratische Führer sind oft auch bestrebt, ihre Amtszeit über eine allfällige Beschränkung hinaus zu führen. Einige beanspruchen ihre Führerschaft auf Lebenszeit.

Die Personifizierung des Autokraten aktueller Prägung ist Ungarns starker Mann, Ministerpräsident Viktor Orban: in demokratischer Wahl an die Spitze des Staates gelangt, setzt er liberale Freiheiten ausser Kraft und nimmt die politische Opposition, die Medien sowie die Zivilgesellschaft hart an die Kandare.

Dennoch: Orban muss sich aber nach wie vor der Wiederwahl stellen, und im ungarischen Parlament sind mehrere Parteien vertreten. Die Autoren sprechen deshalb von «gradueller Autokratisierung mit einer juristischen Fassade». 

Internationale Sanktionen, wie sie sich im Falle einer militärischen Invasion oder eines Putsches als sehr wirksam zeigten, sind aufgrund dieses legalen Deckmäntelchens sehr viel schwieriger durchzusetzen. Dies bringt die bisher herrschende Ratlosigkeit der EU dem zunehmend antidemokratischen Mitgliedsland gut zum Ausdruck.

Nicht mehr zu stoppen

«Die dritte Welle der Autokratisierung ist real und bedeutet für die Demokratien eine Gefahr», kommen Lührmann und Lindberg in ihrer Studie zum Schluss. Der Grund dafür: Praktisch alle Fälle von Autokratisierung einer Demokratie hätten am Ende zum Kippen des Landes geführt, schreiben sie. «Nur ganz selten konnte eine solche Entwicklung gestoppt werden, bevor die Länder zu Autokratien wurden.»

Dennoch wäre es laut den Autoren falsch, in Alarmismus zu verfallen oder gar auf Panik zu machen. Denn trotz breiterer und gradueller Autokratisierung ist die Lage der Demokratien insgesamt immer noch sehr robust. 

Auch dies belegen die Forschenden mit Zahlen aus ihrem reichen Datenfundus: 2017 führte V-Dem noch 33 «geschlossene» Autokratien, darunter Nordkorea und Angola. 1980, vor dem Fall der kommunistischen Staaten und dem Eisernen Vorhang, waren noch rund die Hälfte aller Länder der Welt waschechte Autokratien gewesen.

Nagelprobe EU-Wahlen

«Die globale Zunahme von Demokratisierung sollte einen hemmenden Effekt auf die Rate von Autokratisierung haben», schreiben Anna Lührmann und Staffan Lindberg.

Derweil steht eine grosse Nagelprobe für die Demokratien vor der Tür: Am 26. Mai wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union das neue EU-Parlament. 

Die nationalistischen und populistischen Parteien haben einen Grossangriff auf die bisherigen Systemparteien von Mitte/Links angekündigt. Erklärtes Ziel: Diese entscheidend zu schwächen.

Demokratisierung und Autokratisierung seit 1900

Die Forschenden von V-Dem untersuchten unter der Leitung von Staffan Lindberg und Anna Lührmann 182 Länder, dies über den Zeitraum von 1900 bis 2017. 

In diesen 117 Jahren registrierten sie total 217 Autokratisierungen, die 109 Länder betrafen.

Zwei Drittel der Fälle fanden in Ländern statt, die bereits autokratisch regiert wurden. Ein Drittel entfällt auf Demokratien.

In der aktuellen, dritten Welle sind 47 Länder von Autokratisierung betroffen.


Externer Inhalt
Renat Kuenzi im Gespräch mit Anna Lührmann und Parag Khanna zum Int. Tag der Demokratie am 15. September 2018

Der Autor auf TwitterExterner Link.

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