«Hier die Sicherheit, drüben die Freiheit»: So blicken Schweizer Amerika-Fans am Truckerfestival auf die USA
Am grössten Trucker- und Country-Festival Europas in Interlaken blicken viele sehnsüchtig in die USA. Doch Faszination für den Highway 66 und den Wilden Westen bedeutet nicht zwingend, dass man eine naive Vorstellung vom Land ohne Kranken- und Pensionskasse hegt.
Das Trucker- und Countryfestival in Interlaken ist das grösste seiner Art in Europa. 45 000 Besucher:innen sind 2024 gekommen.
Und zuweilen fühlt man sich hier nicht wie in Europa: Monstertruck, Cowboy-Hüte und ein künstlicher Rodeo-Bulle in einem Flughafenhangar, die Leute essen Corndogs und dieWild West Girls and Boys sehen aus wie Figuren im Saloon eines Lucky-Luke-Comics.
Doch der Ansager spricht Deutsch mit österreichischem Klang und erzählt davon, wie die europäischen Auswander:innen die Tänze ihrer Heimat in die USA mitbrachten.
«Richtig Wilder Westen» in Interlaken
Die Wild West Girls and Boys tanzen auch zum Kinderlied «Old Mac Donald had a Farm». Das Festival wirkt manchmal wie eine Amerika-Fasnacht in der Schweiz. «Richtig Wilder Westen», sagt eine Besucherin zu ihrer Begleitung.
Ein paar Tage davor erklärt der Kulturwissenschaftler Johannes Binotto: «John Wayne-Fans hören das vielleicht nicht gerne, aber den Wilden Westen gibt es nur als sehnsüchtige Vorstellung.»
Am 5. November entscheiden sich die US-Amerikaner:innen für einen neuen Präsidenten oder – erstmals – eine Präsidentin.
Die Wahl ist sowohl von Kamala Harris als auch von Donald Trump zur Schicksalswahl über die Zukunft des politischen Systems und der Demokratie erklärt worden.
Die Schweiz und die USA haben sich einst gegenseitig geprägt.
In diesem Momentum haben wir uns die gemeinsame Geschichte der Staaten aufgearbeitet und uns angeschaut, wie die geschwisterliche Vergangenheit in der Gegenwart nachwirkt.
Im Western-Genre zeige sich beispielhaft, nach welchen Amerika-Fantasien man sich sehnt – in Europa, aber auch in den USA. «Die ersten Western-Geschichten tauchten erst auf, als es den von Weissen unbesiedelten Westen schon nicht mehr gegeben hatte.»
Für den Besuch in Interlaken hat uns Binotto eine Frage mit auf den Weg gegeben: Wovon reden die Leute, wenn sie von Amerika reden?
In Interlaken ist die Antwort darauf häufig geografisch. Viele Trucker-Fans denken an ländliche Regionen in den USA. Sie erzählen von ihrer Arbeit auf einer Orangenfarm in Florida. Sie berichten vom Mittleren Westen, wo man die Freiheit wirklich spüre – im Pick-up-Auto oder gleich einem LKW.
Von ihrer Faszination für die Südstaaten, diese seien «kontrovers, aber auch sehr interessant». Sie erzählen von North Dakota oder Illinois – aber nicht von Chicago, denn: «Ich war auf dem Land, da, wo das Essen herkommt.» Hier war noch kaum jemand in New York.
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Mehr Western als Politik
Es ist der Tag nach der US-Präsidentschaftsdebatte. Aber in Interlaken wird es meist bloss in Andeutungen politisch. Nur einer zeigt im Gespräch mit uns auf seine Flagge der konföderierten Südstaaten und sagt, er schätze es, dass die Südstaaten lange an der Sklaverei festgehalten haben. Als wir kritisch nachfragen, ob er betrunken sei, verneint er.
Die Leute wippen mit der Musik mit, die aus Lautsprechern von kleinen und grossen Bühnen dröhnt. Profis wie Amateur:innen tanzen Line Dance – nicht nur auf den offiziellen Bühnen, sondern an allen Ecken und Enden. Im Western-Dorf können sich diejenigen, die noch keinen haben, einen Cowboy-Hut kaufen.
Das wilde, männliche Western-Leben wird dabei durchaus mit einem Augenzwinkern betrachtet. Der Humor ist teilweise grob: «Zu viele Arschlöcher, zu wenig Kugeln», steht auf einem Blechschild mit Clint Eastwood.
Kinderfreundlicher ist da der LKW, der komplett mit Motiven der Italo-Western-Klamaukfiguren Terence Hill und Bud Spencer besprüht ist.
«Sein eigenes Ding in den USA und der Schweiz machen»
Johannes Binotto würde gut hierhinpassen, denn der Kulturwissenschaftler läuft selbst mit Cowboy-Hut rum. Er sei «total fasziniert vom Land und den Erzählungen darüber».
Seinen ersten Cowboy-Hut habe Binotto gekauft, als George W. Bush Präsident war und er «die tollen Hüte nicht den reaktionären Leuten» habe überlassen wollen. Die Mythologie des Wilden Westens gehöre nämlich nicht einem politischen Lager, sondern sei schillernd uneindeutig.
Dass das grösste Trucker- und Country-Festival von Europa in der Schweiz stattfindet, überrascht Binotto nicht. Er sieht Gemeinsamkeiten im republikanischen Selbstverständnis beider Länder: «Das Ideal, dass man in seinem eigenen Garten sein eigenes Ding macht, gibt es in den USA und der Schweiz.»
Die Regierung und die Obrigkeit solle nicht ins eigene Leben reinblicken.
Der Frontiermythos in den Schweizer Alpen?
Die Sehnsucht nach Freiheit in der Leere, nimmt Binotto auch in den Alpen wahr.
«Wenn du schaust, wo die Siedlungen dort gegründet worden sind: Da kommt’s mir vor, die Leute sind dort hingezogen, um nicht mit anderen zusammen zu sein», sagt Binotto, «Schweizer Bergdörfer haben auch was frontier-mässiges.» Der Frontier-Mythos beschreibt die Überhöhung von den europäischen Auswanderer:innen, die im 19. Jahrhundert westwärts gezogen sind.
Die Pop- und Volkskultur ehrt jene als Held:innen, die am frühsten weit im Westen siedelten – an der Grenze zur wahrgenommenen Wildnis.
Das abgesicherte Leben in der Schweiz
Doch die Amerika-Fans in Interlaken sehen wenig Gemeinsamkeit in der Mentalität von Schweiz und USA – am ehesten noch im Hinblick auf Geselligkeit und Gemütlichkeit. «Das Land hat mich bewegt, aber ich sehe wenig Ähnlichkeiten mit der Schweiz», sagt etwa Matthias Steffen aus dem Emmental.
In den USA sei Scheitern erlaubt, man könne als Unternehmer hinfallen und wieder aufstehen. Da gebe es mehr Leben und Lebensfreude.
«Hier hast du die Polizei vor dem Haus, wenn du am Sonntag auf einen Baum schiesst», sagt Steffen, der in seinem Leben versuche, das «Beste aus der Schweiz und den USA zu vermischen».
Trotzdem lebe auch er wie ein «Bünzlischweizer» und denke nicht ans Auswandern. «Dort drüben schaut niemand für dich.»
«Bünzlischweizer» – diese abwertende Bezeichnung für gesellschaftskonforme Schweizer:innen fällt mehrmals. Die Schweiz gilt als Land der Kleinkarierten – im Gegensatz zum grossen Land der Freiheit.
«Die Sicherheit hast du hier, die Freiheit hast du drüben», sagt Rico Meyer, der einen Teil seiner Kindheit in den USA verbrachte. In der Schweiz gelte man beispielsweise schnell als «Umweltzerstörer», wenn man einen Geländewagen fahre.
Trotzdem schätzt auch Meyer die Sicherheit: «Es gibt zu viel, was in der Schweiz besser ist: die Krankenversicherung, die Altersvorsorge.»
«Die Freiheit aus den Filmen»
Auch Beat Ruchti, der «die Freiheit, die man aus den Filmen kennt», im Mittleren Westen erlebt hat, denkt nicht ernsthaft ans Auswandern.
Er gehe jedes Jahr «rüber» und habe dort regelmässig politische Diskussionen über den Schweizer Sozialstaat, die Krankenkasse oder Rentenversicherung.
«Es liegen Welten zwischen der Politik von hier und drüben. Hier sind wir in einem sicheren Land», sagt Ruchti. Und diese Sicherheit will er nicht einfach aufgeben.
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Viele Besucher:innen des Trucker- und Countryfestivals in Interlaken sind begeistert von den USA und dem American Way of Life. Gleichzeitig erkennen fast alle, mit denen wir gesprochen haben, den Unterschied zwischen Faszination und Begeisterung – und Realität.
«God bless our Nation» steht auf dem Nummernschild von Bernd Zays Geländewagen. 31 Jahre lang ist Zay LKW gefahren. «Er würde am liebsten auswandern», sagt Tatjana Zay, seine Frau. Doch Bernd Zay winkt lächelnd ab. Es habe sich nie ergeben. Seine Faszination für die USA ist mit der Autobegeisterung als Jugendlicher gewachsen.
Doch die Faszination sei nicht nur einseitig. «Die Rituale und Lebensgewohnheiten sind in der Schweiz sehr andere», sagt Zay, «Aber wie Schweizer fasziniert sind von den USA, kenne ich einige aus Amerika, die total fasziniert sind von der Schweiz.»
Damit beobachtet der langjährige Lastwagenfahrer etwas Ähnliches wie es auch der Kulturwissenschaftler Binotto getan hat: «Amerika pflegt ein Phantasma von Ländern wie der Schweiz.»
In der Schweiz pflege man ein Phantasma der USA. «Diese Fantasievorstellungen beeinflussen sich gegenseitig», sagt Binotto, «Und haben reale Auswirkungen auf gesellschaftliche Debatten.»
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Editiert von David Eugster
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