Junge Forscher auf der Spur der Rekord-Stimmabstinenz
Stell dir vor, es ist Abstimmung, und niemand geht hin. Ganz so schlimm ist es zwar nicht in der Schweiz. Dennoch: Die aktive Teilnahme der Stimmbürger ist im internationalen Vergleich äusserst schwach. Politologie-Studentinnen und -Studenten der Universität Zürich sind den Gründen dafür nachgegangen und haben Verbesserungsvorschläge gemacht. Leiter von politischen Kampagnen sollten ihre Ohren spitzen.
«Von einer Unsicherheit ohne Informationen zu einer Unsicherheit mit Informationen zu gelangen: Das ist das Ziel der Untersuchungen und Umfragen in der Politikwissenschaft!» Das sagte Claude Longchamp, der bekannteste Politikwissenschaftler und Umfragen-Leiter der Schweiz, kürzlich in Zürich. Sein Publikum: Junge Forscherinnen und Forscher des Instituts für Politikwissenschaften der Universität Zürich (IPZExterner Link). Sie präsentierten ihre BachelorarbeitenExterner Link, die sie im Seminar «Ungleichheit, Demokratie und Partizipation» bei Professorin Silja HäusermannExterner Link verfassten.
«Warum hat die Schweiz, die im Bereich direkte Demokratie als Modell gilt, bei weitem die tiefste StimmbeteiligungExterner Link? Sind die Stimmbürger dermassen zufrieden, dass sie nicht mehr an die Urnen gehen? Dies waren die Fragen, denen wir dieses Jahr nachgegangen sind», erklärt Silja Häusermann die Ausgangslage.
Ihre Studentinnen und Studenten konnten sich auf vielfältiges Datenmaterial berufen, darunter die «European Social Survey 2012». Ihren Analysen lagen auch spezifische Daten aus der Schweiz zugrunde.
Die Poster-Präsentationen hält Häusermann für eine sehr gute Übung. «Das zwingt sie nicht nur zur Zerlegung der verfügbaren, sehr komplexen Daten. Sie müssen auch zu einer Schlussfolgerung kommen.» Bereits zum dritten Mal lässt Häusermann die Teilnehmenden des Forschungsseminars ihre Ergebnisse im Posterformat vorstellen.
Teilnehmen können wertvoller als teilnehmen
Zu jenen, die zu einem bemerkenswerten Ergebnis gekommen sind, zählt Stefan Rey. Er untersuchte den Zusammenhang zwischen dem Umfang der demokratischen Rechte, die den Bürgern in den einzelnen Kantonen der Schweiz zur Verfügung stehen, und ihrer jeweiligen Zufriedenheit. Zu den Rechten zählen etwa das Finanzreferendum und natürlich die Volksinitiative.
«Man konnte annehmen, dass jene Bürger, die über eine breite Palette an direktdemokratischen Instrumenten verfügen, mit dem politischen System zufriedener sind als andere. Dasselbe, je mehr Abstimmungen über verschiedene Themen es gibt», sagt Rey.
Seine Studie bestätigt nun diese Hypothese. «In den Kantonen der französischsprachigen Schweiz, wo es weniger Abstimmungen gibt als in jenen der Deutschschweiz, sind die Bürger unzufriedener. Doch die Unterschiede sind nicht gross.» Rey zieht daraus den Schluss, «dass die Möglichkeit, sich an demokratischen Entscheiden zu beteiligen, stärkere Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Bürger hat als die tatsächliche Beteiligung».
Jung und ungeduldig
Ein anderer Punkt, der in der Diskussion um tiefe Stimmbeteiligung immer wieder ins Spiel kommt, ist das Wahlrecht, das bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschliesst. Stiege die Zufriedenheit der Bürger, wenn in ihrem Land etwa Minderjährige oder Ausländer wählen und abstimmen könnten?
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«Die jungen Wähler gewinnen immer»
Gesellschaft und Wirtschaft brauchten zufriedene Bürger, betont Jeffrey Stein. Der Student hat den Grad der Zufriedenheit von Ausländern, noch nicht Stimmberechtigten, Stimmbürgern sowie Nicht-Wählern untersucht. Dabei stiess er auf eine Überraschung: Personen, die vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen sind, sind mit dem politischen System zufriedener als jene, die ihr Stimmrecht ausüben oder freiwillig darauf verzichten. Das gilt aber nicht für die jungen Unmündigen, denen das Stimmrecht noch nicht zusteht: Die U18-Jährigen sind deutlich unzufriedener aus die Ausländer.
Polit-Interesse bei Jungen stabil
Blerta Salihi untersuchte das Stimmverhalten von eingebürgerten Ausländern und aktiven Schweizer Bürgern. «Wie zu erwarten war, sind letztere eher bereit, sich an Abstimmungen und Wahlen zu beteiligen als erstere. Im Schnitt sind es 82% bei den Schweizer Bürgern gegenüber 70% der naturalisierten Ausländer.»
Eingebürgerte würden sich lange mit ihrem Herkunftsland identifizieren. «Deshalb ist ihr Interesse für politische Ereignisse in ihrem neuen Land oft weniger ausgeprägt», sagt Salihi.
Geht es um die stärkere Mobilisierung, gibt es keine Partei und keine Gruppierung, bei denen diese Jungen nicht umworben werden. Die Jungen nahm Ruedi Schneider genauer unter die Lupe. Er kam zum Schluss, dass das Interesse der 15- bis 30-Jährigen an der Schweizer Politik zwischen 2002 und 2012 stabil geblieben sei. Knapp 50% bezeichneten sich als politisch interessiert, gegenüber 32,4% dieser Altersgruppe im europäischen Durchschnitt.
Nur wenige «Falsch-Stimmer»
In der Demokratie stimmen Bürger zuweilen gegen ihre eigenen Interessen und Einstellungen. «Incorrect voting» heisst dieses Phänomen in der Sprache der Politik-Experten. Erforscht wird es vor allem in den USA, wo Benachteiligte und Schlechtgebildete eher Kandidaten der rechtsgerichteten Republikaner wählen.
Arlena Frey ging dem «falschen Abstimmen» in der Schweiz nach. Sie tat dies anhand zweier Vorlagen, über die das Schweizer Volk 2008 abgestimmt hatte: Die Volksinitiative «für ein flexibles Rentenalter» und jene «für die Unverjährbarkeit von pornografischen Straftaten an Kindern». Erstere wurde mit 59% Nein verworfen, letztere mit 52% angenommen. Die Stimmbeteiligung war 47,5%.
Wie Frey nun herausfand, betrug der Anteil des «Incorrect voting» bei der AHV-Initiative 7,5% und 10% beim Begehren gegen Kinderpornografie. «Das Phänomen ist in der Schweiz schwach», sagt Frey. Je stärker eine Vorlage das Interesse der Stimmbürger wecke, desto weniger «falsche Stimmen» würden eingelegt. «Der kleine Anteil von ‹Incorrect voting› ist ein gutes Zeichen für die Legitimität der direkten Demokratie in der Schweiz», schliesst Frey daraus.
Professorin Silja Häusermann zeigte sich über die Ergebnisse der Arbeiten ihrer Studierenden sehr zufrieden. «Sie zeigen, dass das Bewusstsein der Bürger über deren eigene Kompetenz sehr wichtig ist für die politische Partizipation. Will man die Beteiligung der Bürger an Wahlen und Abstimmungen erhöhen, muss man wahrscheinlich vor allem bei der politischen Bildung ansetzen», steht für Häusermann fest.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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