Darum ist die Abstimmung in Moutier historisch
Das Rezept heisst reden und abstimmen. Wieso der Urnengang um Moutier, an dem sich 3997 Stimmbürger beteiligten, historisch ist? Er beendet einen über 200-jährigen Sezessions-Konflikt – demokratisch.
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1815 wars, als die Jurafrage ihren Anfang nahm: Am Wiener KongressExterner Link wurde das Gebiet des Juras vom Bistum Basel gelöst und neu dem Kanton BernExterner Link zugeschlagen. Mit einem Schlag fanden sich die Jurassier als französischsprachige, katholische und arme Minderheit von einer Berner Mehrheit dominiert, die Deutsch sprach sowie protestantisch und viel reicher war. Mit dieser Dominanz wollten sich die Jurassier aber nicht abfinden und strebten die Loslösung von Bern an.Externer Link
Im Verlauf der Sezessionsbemühungen schreckten die Autonomisten auch vor Gewalt-Eskalationen nicht zurück. Doch statt in einen Bürgerkrieg zu münden, wie dies bei Autonomiekämpfen etwa in Nordirland, im Baskenland oder Sri Lanka der Fall war, wurde der Prozess am Verhandlungstisch besprochen und an der Abstimmungsurne Schritt für Schritt abgesichert. So endete es friedlich und mit dem Sieg der jurassischen Minderheit über die ungeliebte bernische Mehrheit.
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Gesichter der Demokratie
Die wichtigsten Stationen des Jurakonflikts zeigen, dass der Weg aus den Eskalationen immer in demokratischen Massnahmen bestand – auf sämtlichen Ebenen: Abgestimmt wurde lokal, kantonal, regional und landesweit.
1815 – Ausgangspunkt: Der Wiener Kongress gibt den Jura dem Kanton Bern. Die jurassische Bevölkerung fühlt sich diesem kulturell fremd.
1947 – Eskalation:Das Parlament des Kantons Bern verweigert einem bern-jurassischen und französischsprachigen Mitglied der Kantonsregierung die Übernahme der Baudirektion.Externer Link Die Jurassier fühlen sich gedemütigt und gründen im selben Jahr eine Separatistenbewegung.
1950 – demokratische Gegenmassnahme: Eine kantonale Abstimmung wird abgehalten. Das Stimmvolk des Kantons Bern sagt Ja zu einer Verfassungsänderung. Französisch wird zweite Amtssprache, die jurassischen Bezirke erhalten zwei garantierte Sitze in der Kantonsregierung.
1972 – Eskalation: Eine separatistische Untergrundbewegung sprengt ein Munitionsdepot der Schweizer Armee in die Luft.
1974 – demokratische Gegenmassnahmen:
1. Regionale Abstimmungen («Jura-Plebiszite») werden abgehalten: Die jurassische Bevölkerung entscheidet sich für einen eigenen Kanton.
2. 1978 wird eine nationale Abstimmung abgehalten: Das Schweizer Stimmvolk spricht sich mit über 80% Ja für die Gründung eines neuen Kantons «Jura» aus.
1984 – Eskalation: Separatisten stürzen im Jura ein Denkmal des unbekannten Soldaten, das an den Einsatz der Schweizer Wehrmänner während des Ersten Weltkrieges erinnerte.
1986 – Eskalation: Separatisten stürzen in Bern den historischen Gerechtigkeitsbrunnen.
1989 – demokratische Gegenmassnahmen: Eine regionale Abstimmung wird abgehalten: Das Laufental entscheidet sich für den Wechsel vom Kanton Bern zu Basel-Landschaft.
1993 – Eskalation: Ein junger Separatist stirbt in der Berner Altstadt bei der Explosion eines mitgeführten Sprengsatzes in seinem Auto.
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Die Geburt des 26. und letzten Schweizer Kantons
1994 – Deeskalation und Konfliktmanagement: Unter der Ägide des Bundesrates unterzeichnen die Kantone Jura und Bern die Gründung der Interjurassischen Versammlung. Eine Roadmap zur Lösung der Jurafrage wird erstellt und von beiden Konfliktparteien als verbindlich akzeptiert.
Ab 1996 – weitere demokratische Massnahmen:
1. kommunale Abstimmung: Die Gemeinde Vellerat wechselt vom Kanton Bern zum Kanton Jura.
2. 2013 lokale und kantonale Abstimmung über den Beitritt des Berner Juras zum Kanton Jura. Berner Jura: Knapp 72% der Stimmenden sagen Nein zum Wechsel. Kanton Jura: über 76% Ja zum Übertritt. Im bernischen Moutier sagten 55% Ja zur Vereinigung des bernischen Südjura mit dem Kanton Jura.
3. 2017, kommunale Abstimmung Moutier: 51,2% sagen Ja zum Wechsel vom Kanton Bern zum Kanton Jura – nach über 200 Jahren ist die Jurafrage gelöst.
Formeller Abschluss: Kantonale Abstimmungen: Bern und Jura müssen den Wechsel Moutiers noch in Volksabstimmungen gutheissen. Als letztes ist das Plazet des Schweizer Parlaments nötig.
Der Autor auf Twitter: @RenatKuenziExterner Link
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