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«Der objektive Richter ist ein Ideal, vielleicht gar eine Illusion»

Wandbemalung des Rathauses von Schwyz
Wie sollen Richter bestimmt werden: Gemäss Parteizugehörigkeit oder per Los? Heritage-Images / The Print Collector / akg-images

Eine Volksinitiative fordert, dass Bundesrichter zukünftig per Los bestimmt werden. Ein Historiker und Rechtswissenschaftler erklärt im Interview, wie die Schweiz zu ihrem international umstrittenen System der Richterwahlen kam.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Wer in der Schweiz Bundesrichter werden will, muss faktisch einer Partei angehören. Das Parlament vergibt die Stellen inoffiziell nach Parteienproporz (Verteilschlüssel gemäss Stärke der Parteien). Werden sie gewählt, müssen die Richter eine happige SteuerExterner Link an ihre Partei zahlen (3’000 bis 26’000 Franken pro Jahr, je nach Partei). Nach einigen Jahren müssen sie sich der Wiederwahl stellen – und sind dabei wieder auf die Unterstützung ihrer Partei angewiesen.

Ein junger Mann blickt ernst in die Kamera
Lorenz Langer hat Mediävistik, Geschichte und Archäologie sowie Rechtswissenschaften studiert. Nach dem Anwaltspatent zog es ihn zurück in die Forschung, wo er sich schwergewichtig mit Politik und Demokratie befasst. Zurzeit arbeitet er an der Universität Zürich sowie am Zentrum für Demokratie Aarau und forscht im Rahmen seiner Habilitation zum Thema Richterwahlen in der Schweiz. zvg

Dieses System führt nicht nur zu internationaler Kritik, beispielsweise durch die Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (GRECO)Externer Link. Auch landesintern regt sich Widerstand: Einer der reichsten Unternehmer der Schweiz sammelt mit Mitstreitern Unterschriften für die «Justiz-Initiative». Diese fordert, dass Bundesrichter per Los bestimmt werden (siehe Box).

swissinfo.ch: Herr Langer, Sie schrieben Ihre Habilitation über Richterwahlen in der Schweiz. Was ist das Besondere am Schweizer System?

Lorenz Langer: Zum einen die Volksbeteiligung, zumindest an den unteren Instanzen. Zwar ist das nicht einmalig, in den USA gibt es das teilweise auch. Aber in den meisten anderen Rechtsordnungen erntet man Unverständnis für die Richterwahl durch das Volk. Bei Tischgesprächen mit Juristen im Ausland ist es deshalb ein dankbares Thema, weil die Leute sich das gar nicht vorstellen können.

swissinfo.ch: Warum hat man denn historisch in der Schweiz die Volkswahl für Richter eingeführt?

L.L.: In der germanischen Rechtstradition war es üblich, dass die Versammlung der freien Männer über Mitglieder der Gemeinschaft geurteilt hat. Überreste davon sind im Geschworenenwesen zu finden. In der Schweiz hat man historisch die Rechtsprechung durch Gelehrte mit grosser Skepsis aufgenommen. Das römische Recht wurde in der Schweiz weniger stark rezipiert als in Deutschland. Es gibt schöne Berichte aus dem Spätmittelalter oder der frühen Neuzeit, dass beispielsweise jemand aus dem deutschen Kaiserreich mit einem gelehrten Anwalt auftrat und die Schweizer fanden, diese gelehrten Juristen brauchen wir nicht, wir sprechen unser eigenes Recht.

swissinfo.ch: Haben sich diese kulturellen Differenzen bis heute gehalten?

L.L.: Ja, das sehen Sie nur schon an den Gesetzestexten: Gesetze werden in der Schweiz ganz anders verfasst. Das Ideal war in der Schweiz immer, dass auch ein Laie oder Nichtjurist die Gesetze verstehen kann. Das ist zum Beispiel in Deutschland, und besonders auf EU-Ebene, anders.

Alte Römer
Der römische Kaiser Domitian verurteilt die zu Unrecht beschuldigte Vestalin Cornelia zum Tode. akg-images

swissinfo.ch: Welche anderen Besonderheiten gibt es bei der Richterwahl in der Schweiz?

L.L.: Dass Richter wiedergewählt werden müssen und eine relativ kurze Amtsdauer haben. Zudem – und darum geht es bei der Justiz-Initiative – die offensichtliche Bindung der Richter zu den Parteien. Ich sage offensichtlich, weil in anderen Ländern häufig auch ein Parteieneinfluss vorhanden ist, aber nicht so offen deklariert wird wie in der Schweiz. In der Schweiz kann man ohne Partei praktisch nicht an ein Gericht gewählt werden, zumindest nicht an die oberen Instanzen. Und weil es diesen informellen Verteilschlüssel gibt, den man zwar nirgends findet, aber jeder weiss, wer als nächster dran ist.

swissinfo.ch: Warum hat man in der Schweiz angefangen, die Parteien bei der Besetzung von Richterstellen zu berücksichtigen, obwohl das gesetzlich gar nicht vorgesehen ist?

L.L.: Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie weit die Justiz eine demokratische Legitimation benötigt oder ob die Rechtsprechung eine rein technokratische Aufgabe ist, die vollkommen losgelöst von der Politik sein soll. In der Schweiz ist man zum Schluss gekommen, dass es gewisse Verbindungen zur Politik gibt und vielleicht auch geben muss.

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swissinfo.ch: Man wollte also alle Meinungen auch bei den Richtern vertreten haben?

L.L.: Genau. Die Gerichte sollen bis zu einem gewissen Grad das politische Spektrum spiegeln.

swissinfo.ch: Die Initianten wollen dies – zumindest auf Bundesebene – aufheben und Richter stattdessen durch einen Losentscheid bestimmen. Wäre das Ihrer Meinung nach gerechter?

L.L.: Puh, was heisst gerecht? (lacht) Die Idee vom Los hat mich ehrlich gesagt ein wenig überrascht. Das gab es zwar früher schon. Im alten Athen wurden Richter durch das Los bestimmt. Das hat allerdings zur Verurteilung von Sokrates geführt, insofern bin ich nicht sicher, ob das per se die bessere Lösung ist.

(überlegt längere Zeit)

Ich habe mit Losentscheiden ein wenig Mühe. Es heisst ja in der Initiative, dass die Amtssprachen beim Losverfahren berücksichtigt werden müssen, das Geschlecht der Richter hingegen nicht. Es wäre also durchaus möglich, dass es diesbezüglich ein starkes Ungleichgewicht gäbe. Das Hauptproblem bei den Vorschlägen der Initianten sehe ich darin, dass sich die Zulassung zum Losverfahren nach ‹ausschliesslich objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung› für das Amt als Richter oder Richterin des Bundesgerichts richten müsste. Ich wäre natürlich sehr froh für meine Habilitation, wenn mir jemand sagen könnte, was diese «objektiven Kriterien» sind. Man verschiebt meiner Meinung nach das Problem einfach eine Stufe nach vorne.

swissinfo.ch: Das heisst, die ganze Macht würde dann bei der Fachkommission liegen, welche die Kandidaten für den Pool des späteren Losentscheids festlegt. Es wäre nicht garantiert, dass diese gerecht entscheiden würde.

L.L.: Ja. Aber nochmals: Was heisst gerecht? Wahrscheinlich weniger repräsentativ. Es besteht das Risiko, dass in einem solchen Gremium gewisse soziale Schichten, Bildungshintergründe und politische Ansichten dominieren und andere zu kurz kommen.

swissinfo.ch: Mit dem jetzigen System ist also besser gewährleistet, dass nicht nur ein Typus Richter urteilt, sondern eine gewisse Vielfalt besteht?

L.L.: Ja. Es ist ja so, dass Richter ihre politischen Ansichten haben. Ob offen deklariert oder nicht. Ich habe immer Mühe, wenn Juristen über Juristen sagen, dass sie nur nach objektiven Kriterien entscheiden. Der objektive Richter ist ein Ideal…

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swissinfo.ch: Eine Illusion?

L.L.: (lacht) Ich habe jetzt Ideal gesagt, aber ja, vielleicht auch eine Illusion. Mit dem jetzigen System bekommt man vielleicht nicht immer die besten Professoren oder Professorinnen auf die Richterbank, aber es stellt sicher, dass das Spektrum einigermassen abgedeckt ist. Es gibt Untersuchungen aus anderen Ländern, zum Beispiel England, bei denen man gesehen hat, dass die Richterschaft ganz überwiegend aus konservativen, weissen Männern besteht, was die Gesellschaft überhaupt nicht widerspiegelt. Und dort werden die Richter eben genau von Expertengremien gewählt. Die KooptationExterner Link, also das Selbstergänzen von Richtern, finde ich eher problematisch.

swissinfo.ch: Die Initianten werfen allerdings auch heute schon dem Parlament «Klüngelei» bei den Richterwahlen vor.  

L.L.: Dieses Risiko besteht natürlich. Und man hat auch nicht den Eindruck, dass das Verfahren in der Gerichtskommission sehr transparent ist. Mir scheint, dass da auch relativ viel informell geschieht. Es ist teilweise schon lange im Vornherein klar, wer für eine Stelle in Frage kommt. Die Frage ist einfach, ob es ein System gibt, bei dem dies nicht passiert. 

swissinfo.ch: Die Initianten meinen, die aktuelle Situation sei so schlimm, dass die mangelnde richterliche Unabhängigkeit eines der zentralen Probleme unserer Demokratie sei.

L.L.: Bei internationalen Rankings über richterliche Unabhängigkeit ist die Schweiz meist unter den ersten vier oder fünf Plätzen. Theoretisch gibt es die angesprochenen Probleme, das ist ganz klar. Aber es fragt sich, ob man von der Theorie allein ausgehen will oder auch mal empirisch anschauen will, wie es bisher funktioniert hat.

swissinfo.ch: Ich habe ein konkretes Beispiel: Teile des Schweizer Parlaments haben vor ein paar Jahren einen Richter bei der Wiederwahl nicht unterstützt, als «Strafe» für einen missliebigen Entscheid.

L.L.: Dieses Risiko besteht, ja. Meine Vermutung ist, dass man sich eine solche Aktion nur leistet, wenn man sich ganz sicher ist, dass sie keine Konsequenzen hat. Es gab bisher nur einen Fall, in dem ein Bundesrichter nicht bestätigt wurde. Das war Martin Schubarth im Jahr 1990. Das war sozusagen ein Unfall: Man wollte ihn bloss abstrafen, aber dann passierte es aus Versehen, dass er tatsächlich nicht wiedergewählt wurde (wobei hinter den Kulissen auch andere Richter des Bundesgerichts kräftig mitmischten). Zwei Tage später wurde er einfach bei der Wahl der neuen Richter wieder ins Bundesgericht gewählt. Dieses Problem hat aber nicht in erster Linie mit der Parteienbindung zu tun, sondern eher mit der Amtsdauer. Wobei die Initianten das auch ändern wollen: Bundesrichter sollen bis zur Pensionierung im Amt bleiben.

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swissinfo.ch: Gibt das den Einzelpersonen nicht zu viel Macht?

L.L. Ja, die Konsequenzen sieht man ja in den USA beim Obersten Gerichtshof. Erstens führt es zu einer starken Politisierung vor der Wahl. Denn wenn jemand so lange Richter oder Richterin ist, will man sicherstellen, dass diese Person den eigenen Präferenzen entspricht. Das Beispiel der USA zeigt auch, dass dies schlussendlich nicht möglich ist, denn manche Richter ändern später ihre Einstellung. Da stellt sich dann schon die Frage, ob nicht auch von der Justiz eine gewisse demokratische Rechenschaftspflicht gefordert werden kann. Besonders wenn man bedenkt, dass Gerichte immer häufiger politische Fragen entscheiden. Fragen, die früher ganz klar Angelegenheiten der Legislative waren, werden entweder bewusst den Richtern zugeschoben – das ist in den USA häufig so. Oder Gerichte entscheiden aus Eigeninitiative über gesellschaftliche Fragen.

swissinfo.ch: Wie kann man diese Entwicklung stoppen und die politischen Fragen wieder in die Hände der Legislative legen? Oder ist das gar nicht wünschenswert?

L.L.: Es kommt auf die Materie drauf an. Die Justiz bietet Minderheiten einen Schutz, welche die Politik ihnen nicht bieten kann. Wenn alles per Mehrheitsentscheid geregelt wird, kommen Minderheiten unter die Räder. Insofern war dies im Grundrechts- und Minderheitenrechtsbereich keine schlechte Entwicklung…

swissinfo.ch: Aber?

L.L.: Es gibt ein gewisses Konfliktpotenzial. Wenn diese Fragen durch die Justiz entschieden werden, richten sich in der Folge auch die politischen Angriffe gegen die Justiz. Und Gerichtsentscheide zementieren dann Konflikte, wie es bei einem Entscheid durch die Legislative weniger der Fall wäre. Die Gerichte haben eine grosse Verantwortung, dass sie gewisse Fragen vielleicht offenlassen oder sagen, etwas sei eine politische Frage. Diesen Konflikt sieht man sehr schön beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR): Ab und zu hält er sich zurück und sagt ‹Das überlassen wir den Mitgliedsstaaten›, in anderen Bereichen aber greift er relativ weit in gesellschaftliche Fragen ein.

swissinfo.ch: Das ist eigentlich sehr undemokratisch, denn das sind drei bis fünf Richter, die das ganz allein entscheiden.

L.L.: Genau. Und auf nationaler Ebene ist das ähnlich. Insofern kann ein Gericht mit grösserer demokratischer Legitimation entscheiden, wenn es durch Parlament oder Volk gewählt ist. Gerade wegen der Tendenz zur Judizialisierung politischer Fragen finde ich das wichtig.

«Justiz-Initiative»

Die Eidgenössische Volksinitiative ‹Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)›Externer Link verlangt, dass Richterinnen und Richter des Bundesgerichts im Losverfahren bestimmt werden, wobei die Amtssprachen angemessen vertreten sein sollen.

Die Zulassung zum Losverfahren soll sich laut Initiative ausschliesslich nach objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung für das Amt als Richterin oder Richter des Bundesgerichts richten. Über die Zulassung zum Losverfahren würde eine Fachkommission entscheiden. Die Mitglieder der Fachkommission würden vom Bundesrat für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren gewählt.

Die Amtsdauer der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts soll neu fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters enden. Bisher müssen sich Richter in der Schweiz regelmässig der Wiederwahl stellen.

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

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