Italienische Städte greifen nach Schweizer Demokratie
Die Kommunalwahlen 2016 markieren nicht nur einen grossen Sieg für die Bewegung "Fünf Sterne", sie stehen auch für einen Fortschritt der partizipativen Demokratie in Italien. Das Ziel sei ein System der direkten Demokratie wie in der Schweiz, sagt der Sprecher der Bewegung.
«Die Beteiligung, auf jede Art und auf jeder Stufe, ist einer der fundamentalen Werte des Movimento 5 Cinque Stelle. Deshalb haben wir vor Monaten einen Beteiligungsprozess gestartet, um das Zukunftsprogramm für Turin auszuarbeiten», schrieb Chiara Appendino, neu gewählte Turiner Bürgermeisterin, in ihrem ProgrammExterner Link.
Aus aktuellem Anlass publizieren wir diesen Text von #DearDemocracy aus dem Jahr 2016 erneut: Riccardo Fraccaro vom populistischen Movimento Cinque Stelle, den Sonia Fenazzi im Artikel befragt, gehört der neuen Regierung Italiens an – als weltweit erster Minister für direkte Demokratie.
Gemeinsam mit Virginia Raggi, der ersten zur Römer Bürgermeisterin gewählten Frau, ist sie eines der Gesichter des ersten Erfolgs der Bewegung «Fünf Sterne» (M5S) in den beiden Metropolen.
Unter den ersten Eckpunkten, die Appendino für die Durchführung einer direkten Demokratie erwähnt, findet sich der VorschlagExterner Link für ein Verfassungsgesetz über bestätigende, vorschlagende und aufhebende Volksentscheide (Referenden), ohne Quorum und Grenzen der Materie.
Dies hatte der M5S-Abgeordnete Riccardo FraccaroExterner Link bereits auf nationaler Ebene vorgeschlagen. Auch wenn eine Mehrheit der Verfassungskommission der Abgeordnetenkammer die Reform des Abgeordneten aus dem Trentino abgelehnt hat, bleibt diese auf der Tagesordnung seiner Bewegung.
Dort, wo sie den Sitz des Bürgermeisters erobern konnten, machen sich die «Grillini» – benannt nach dem Komiker und Bewegungsgründer Beppe Grillo – daran, diese Reform auf kommunaler Ebene umzusetzen.
Ein erster, wenn auch kleiner Schritt: Die Instrumente der direkte Demokratie können nur dort eingeführt werden, wo sie in alleiniger Zuständigkeit der Gemeinden liegen. Doch diese seien in Italien sehr eingeschränkt, sagt Fraccaro. Dort, wo bereits M5S-Bürgermeister im Amt seien, habe man diesen Weg eingeschlagen, so der Abgeordnete. Als Beispiel erwähnt er die Gemeinde Mira im Veneto, die in diesen Tagen ein vorschlagendes und ein aufhebendes Referendum ohne Quorum ins Grundgesetz festschreibe.
Sieg und Niederlage
Die Bewegung Fünf Sterne (M5S) erobert erstmals zwei Metropolen: Rom und Turin. Die Demokratische Partei (Partito Democratico, PD) verliert die Hälfte der Bürgermeisterämter, kann aber Mailand, Bologna und Cagliari halten. Das Mitte-rechts-Lager erobert Triest und 10 Bürgermeisterämter in Provinzhauptstädten. Das sind die wichtigsten Resultate der Kommunalwahlen in Italien vom 19. Juni.
Insgesamt gewinnt das «Movimento 5 Stelle» 19 der 20 Gemeinden, in denen sie zur Kommunalwahl 2016 angetreten ist. Für M5S ein «historisches» Ergebnis. Nächstes Ziel sei nun die Regierung: «Das ist erst der Anfang, jetzt sind wir dran», sagte Parteiführer Beppe Grillo.
«Es ist ein historischer Moment, jetzt beginnt eine neue Ära», sagte Virginia Raggi, die erste zur Bürgermeisterin gewählte Frau Roms.
«Unsere Zeit ist gekommen, wir müssen eine tief verletzte Stadt flicken», sagte Chiara Appendino, die neu gewählte Bürgermeisterin von Turin.
(Quelle: SDA)
Vorliebe für Schweizer Modell
«Innerhalb von M5S teilen wir die Aufgaben auf und arbeiten zwischen den verschiedenen Ebenen zusammen. Ich erhielt die Aufgabe, die partizipative Demokratie auf nationaler Ebene zu entwickeln. So habe ich das Schweizer Modell als Anhaltspunkt gewählt, sowohl was die partizipative Demokratie betrifft wie auch das Wahlgesetz. Und die gesamte Bewegung hat das akzeptiert», erzählt Fraccaro.
Der M5S-Sprecher im italienischen Abgeordnetenhaus präzisiert, dass auch andere Modelle in der Bewegung geprüft worden seien, besonders jene einiger Staaten des amerikanischen Kontinents. «Doch das Schweizer System ist unser Leuchtturm; es ist jenes, das wir bevorzugen und von dem wir uns am meisten inspirieren lassen.»
Nicht nur, weil es den Menschen immer die Möglichkeit gebe, eigene Vorschläge zur Abstimmung zu bringen und Entscheide des Parlaments umzukippen, sondern auch wegen seiner föderalistischen Komponente, die unabhängige Entscheide erlaube. Laut den «Grillini» ist es zentral, dass der Entscheidungsprozess auch im Hinblick auf die verschiedenen Ebenen des Staates von unten nach oben verläuft.
Harter Kampf
Zwar ermöglichen die zentralisierten Strukturen des italienischen Staats gegenwärtig nur wenig Möglichkeiten, die direkte Demokratie einzuführen. Doch M5S beabsichtigt in jenen Gemeinden und Städten aktiv zu werden, in denen sie über das Bürgermeisteramt verfügen, «um ein kritisches Bewusstsein von unten her zu schaffen, um diese neue Kultur der Partizipation und der direkten Demokratie wachsen zu lassen und schliesslich auf höhere Ebenen zu transportieren», so Fraccaro.
«Die partizipative Demokratie ist mehr eine kulturelle Veränderung als eine Regeländerung. Heute verstehen in Italien nicht alle die Notwendigkeit einer Bürgerbeteiligung und einer Kontrolle von unten, weil sie zum Delegieren erzogen wurden. Deshalb müssen die Bürgerinnen und Bürger Erfahrungen machen», sagt der M5S-Abgeordnete.
«Unser oberstes Ziel ist ein Modell wie jenes der Schweiz. Wir wollen in die Regierung und den Menschen die Werkzeuge in die Hand geben, um ihre eigenen Vertreter kontrollieren zu können», sagt Fraccaro. Doch er betont, auch er wisse, dass der Weg dorthin noch sehr lang und schwierig sein werde.
Glauben Sie, dass Italien eines Tages eine direkte Demokratie nach Schweizer Modell einführen wird? Schreiben Sie uns!
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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