Die Schweiz im Fieber der Volksinitiativen
In der Schweiz scheint eine Epidemie an Volksinitiativen zur Krankenversicherung ausgebrochen zu sein. Für zwei Initiativen werden bereits Unterschriften gesammelt, zwei weitere werden in Kürze lanciert. Diese Häufung von Volksinitiativen ist eine Neuheit, doch die Beziehung zwischen direkter Demokratie und Krankenversicherung reicht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück.
Die aktuelle Welle an Volksinitiativen zur Krankenversicherung spiegelt die vertrackte Lage der Schweizerischen Gesundheitspolitik. Dieser milliardenschwere Sektor ist charakterisiert durch Auseinandersetzungen unterschiedlicher Interessens- und Einflussgruppen.
Die andauernden Konflikte haben dazu geführt, dass bisher keine Parlaments- und Volksmehrheiten für notwendige Reformen gefunden werden konnten. Dabei ist die ständige Erhöhung der Krankenkassenprämien ein gewaltiges Problem für die Schweizer Bevölkerung. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) beinhaltet eine obligatorische Versicherung für alle Einwohner in der Schweiz, von der Geburt bis zum Tod.
Eine untragbare Kostenexplosion
Das Krankenversicherungsgesetz ist 1996 in Kraft getreten. Seither sind die Krankenkassenprämien in einem Rhythmus gestiegen, der stets deutlich über dem Anstieg der Löhne und des Bruttosozialprodukts lag.
Diese Entwicklung lastet auf den Familien und Haushaltungen der Schweiz. Im Mittel bezahlte jeder Erwachsene im Jahr 2016 Prämien in Höhe von 3993 Franken (neuere Daten sind nicht verfügbar). Bei Minderjährigen waren es 1039 Franken. Die Zahl der Personen, die nicht mehr in der Lage sind, aus eigenen Einkünften die Krankenkassenprämien zu bestreiten, wächst ständig. Gemäss Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit wurden im Jahr 2016 rund 843 Millionen Franken an fälligen Prämien nicht bezahlt.
Die wichtigsten Zahlen
Die gesamten Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Schweiz betrugen 2016 gemäss OECD Standards insgesamt 80,7 Milliarden Franken und damit 3,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Das Verhältnis der Gesundheitsausgaben zum Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg von 11,9% auf 12,2%. Dies sind die Ergebnisse der provisorischen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS)Externer Link zu den Kosten und der Finanzierung des Gesundheitswesens 2016.
Pro Jahr und Einwohner fielen 803 Franken an, davon gingen 235 Franken (zirka 30 Prozent) direkt zu Lasten der Haushaltungen. Diese müssen zudem für die Krankenkassenprämien aufkommen.
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung wird es immer dringender, die Prämien einzufrieren oder zumindest den Anstieg zu bremsen. Entsprechende Vorschläge häufen sich im Parlament. Doch diese Vorschläge gehen in die unterschiedlichsten Richtungen – je nach Urheberschaft. Krankenversicherer, Pharmaindustrie, Ärzte, Spitäler, Versicherte, Kantone und Konsumentenorganisationen haben die verschiedensten Auffassungen, wie die Kostenexplosion in den Griff zu bekommen ist.
Das direktdemokratische System in der Schweiz erscheint auf den ersten Blick geeignet, durch Volksabstimmungen Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Doch auch hier tummeln sich die unterschiedlichsten Akteure, so dass dieser Weg steiniger ist, als man meinen möchte.
Gegen Lobbyismus, für Föderalismus
Aussergewöhnliche Lösungsvorschläge werden nun mit zwei Volksinitiativen bestritten, für die momentan Unterschriften gesammelt werden. Eine Krankenkasseninitiative verlangt, dass in National- und Ständerat keine Krankenkassenvertreter mehr sitzen dürfen. Wie das Komitee der Eidgenössischen Volksinitiative «Für ein von den Krankenkassen unabhängiges ParlamentExterner Link» schreibt, muss mit der Vermischung von wirtschaftlichen Interessen und der öffentlichen Aufgabe bei der Gesetzgebung für die obligatorische Krankenversicherung Schluss sein.
Diese Initiative wurde von einer breiten Allianz von Versicherten, Konsumenten, Rentnern, aber auch diversen Kantonsparlamenten lanciert. Der Ursprung liegt in den Kantonen Waadt und Genf. Mittlerweile findet die Initiative aber Anhänger im ganzen Land.
Die zweite Eidgenössische Volksinitiative trägt den Titel «Krankenversicherung. Für die Organisationsfreiheit der KantoneExterner Link«. Diese Initiative verlangt, den Kantonen die Oberhoheit über die Krankenkassenprämien zu geben. Eine kantonale oder interkantonale Organisation nach dem Modell einer Ausgleichskasse soll die Prämien festlegen und erheben, die Kosten finanzieren und sich an der Finanzierung von Präventions- und Gesundheitsprogrammen beteiligen. Den Krankenkassen bliebe noch die Verwaltung.
Diese Initiative wurde im Nachgang der Volksabstimmung von 2014 zu einer staatlichen Einheitskasse lanciert. Letztere war damals landesweit vom Volk bachab geschickt worden, aber in den Westschweizer Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg und Jura angenommen worden. Die Schaffung der Organisation soll freiwillig sein, dies als Gegensatz zur 2014 verworfenen Einheitskasse. Die Initianten sind überzeugt, dass diese Formel die Aussicht auf eine Annahme durch das Volk erhöht.
CVP und SP mit eigenen Initiativen
Damit diese beiden Volksinitiativen zustande kommen, müssen bis 3. April 2019 100‘000 gültige Unterschriften gesammelt worden sein. Derweil haben zwei politische Parteien angekündigt, eigene Volksinitiativen zu lancieren. Sie wollen sich damit in Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2019 positionieren und Wahlkampfthemen setzen.
Die Christlich-Demokratische Partei (CVP) wird im Oktober eine Unterschriftensammlung für ihre «Kostenbremse-InitiativeExterner Link» starten. Die zentrale Forderung der Initiative lautet wie folgt: «Liegt die Kostensteigerung der durchschnittlichen Kosten je versicherte Person und Jahr in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zwei Jahre nach Annahme dieser Initiative mehr als ein Fünftel über der Entwicklung der Nominallöhne, und sehen die Tarifpartner keine verbindlichen Massnahmen zur Kostendämpfung vor, so ergreift der Bund zusammen mit den Kantonen Massnahmen zur Kostensenkung für das nachfolgende Jahr.»
Die sozialdemokratische Partei (SP) erarbeitet ihrerseits im Moment einen Initiativtext, um die Prämienlast zu deckeln. Die Belastung durch die Krankenkassenprämien für die obligatorische Krankenversicherung dürfe nicht mehr als 10 Prozent des Haushaltseinkommens betragen. Die Initiative soll im kommenden Frühjahr lanciert werden.
Ein steiniger Weg
Auch wenn für die vier Volksinitiativen die erforderlichen Unterschriften zustande kommen, wird es alles andere als einfach werden, bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit zu finden. Obwohl alle Versicherten wegen der steigenden Prämienlast stöhnen, hat das Stimmvolk bis heute praktisch alle vorgeschlagenen Änderungen abgelehnt.
Die Krankenversicherung war in der direkten Demokratie der Schweiz häufig Gegenstand von Abstimmungen. Am 4. Dezember 1994 nahm das Schweizer Stimmvolk das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) mit einer dünnen Mehrheit von 51,8 Prozent der Stimmen an. Es blieb einer der wenigen Urnengänge zu Gesundheitsvorlagen, zu denen das Volk Ja sagte.
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Gleichentags hatte das Stimmvolk mit 76,6% Nein-Stimmen die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine gesunde Krankenversicherung»Externer Link deutlich versenkt. Diese Initiative war von der Linken lanciert worden. Sie sah vor, die Krankenkassenprämien einkommensabhängig zu gestalten. Das heisst: Die Beiträge der Versicherten sollten nach Massgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit berechnet und vom Lohn abgezogen werden. Bei höheren Löhnen hätte man höhere Krankenkassenprämien bezahlt. Arbeitgeber hätten mindestens die Hälfte der Abzüge übernommen.
Seither wurden fünf Volksinitiativen, ein Gegenvorschlag und eine vom Parlament vorgeschlagene Änderung des KVG vom Stimmvolk zurückgewiesen. Nur zwei Vorschläge fanden beim Volk eine Mehrheit: Das Gesetz, das eine Beteiligung der Kantone an den Kosten der stationären Behandlungen beinhaltete (im Jahr 2003) und der Gegenvorschlag zur zurückgezogenen Initiative «Ja zur Komplementärmedizin». Fünf Anwendungen der Komplementärmedizin wurden wieder in den Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung aufgenommen.
Ein Blick weiter zurück zeigt, dass das Schweizer Volk selten Gesetzes- oder Verfassungsänderungen guthiess, welche die Krankenversicherung betreffen. Vor dem Ja zum neuen Krankenversicherungsgesetz KVG im Jahr 1994 gab es nur zwei Mal eine Zustimmung. 1890 nahm das Stimmvolk einen ergänzenden Verfassungsartikel an, der den Bund dazu verpflichtete, eine Versicherung gegen Unfälle und Krankheiten einzuführen und es dem Bund erlaubte, diese obligatorisch zu machen.
1912 wurde das Bundesgeetz über die Kranken- und Unfallversicherung angenommen, nachdem es durch ein Referendum bekämpft worden war. Dieses Gesetz bildete mehr als 80 Jahre die Grundlage für das Krankenversicherungswesen in der Schweiz.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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