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Uferweg-Sackgasse als «Schlag ins Gesicht der Stimmbürger»

Beste Wohnlage mit Seeanstoss vs. freien Zugang zum Ufer des Genfersees: Das ist der Zwist im malerischen La Tour-de-Peilz. Ausweg nicht in Sicht. Keystone

Schweizerinnen und Schweizer können über praktisch alles abstimmen. Aber die Umsetzung umstrittener Urnenentscheide sorgt schon mal für Zoff. In der Gemeinde La Tour-de-Peilz haben die Stimmbürger 2010 einem öffentlichen Uferweg entlang des Genfersees zugestimmt. Fünf Jahre später ist davon immer noch nichts zu sehen.

Von Vevey aus können Spaziergänger dem Ufer des Genfersees entlang flanieren. Der Fussweg führt sie nach La Tour-de-PeilzExterner Link, einer Gemeinde mit gut 10’000 Einwohnern, wo die Spazierer einem pittoresken, kleinen Hafen entlang schlendern. Es hat sogar einen Strand, zwar nicht mit Sand, aber immerhin kleinen Steinen. Über den See gleitet der Blick auf die eindrücklichen Gipfel der französischen Alpen.

Doch plötzlich stehen die Flanierenden sprichwörtlich am Berg: Der Weg ist unvermittelt zu Ende. Als wäre der Beton ausgegangen. Es gibt nur noch ein paar glitschige Steinblöcke, die aus dem klaren und tiefen Wasser ragen.

«Wir lieben es sehr, dem See entlang zu spazieren, und wir würden gerne weiter gehen. Wir haben das so an der Urne beschlossen, ich kann nicht verstehen, was genau passiert ist», sagt eine Frau, die mit ihrem Ehemann unterwegs ist.

Stattdessen müssen die beiden einen Umweg über die Hauptstrasse nehmen: Auf rund zwei Kilometern verstellen ihnen Villen mit direktem Seeanstoss aus der 20-Mio.-Franken-Liga den Weg.

Nach demokratischer Theorie dürfte es diesen Umweg gar nicht geben. Im November 2010 haben 55% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja gesagt zur Initiative einer lokalen Bürgergruppe, die einen zwei Kilometer langen Spazierweg entlang des Seeufers verlangt, also unmittelbar vor den Gärten der Luxusvillen.

Geschehen ist seit damals nicht viel bis gar nichts. Kritiker geben den örtlichen Behörden die Schuld. 2012 lehnte die rechtsdominierte Legislative der Kleinstadt die Machbarkeitsstudie der Regierung ab. Kritiker glauben auch, dass der Plan der Stadtregierung absichtlich unausgegoren war, damit er scheitert. Dies auch aufgrund riesiger Enteignungsentschädigungen für die betroffenen Villenbesitzer.

«Es gibt da eine beträchtliche Trägheit», sagt ein Anwohner, der nicht genannt sein will. «Sie hängt mit den Gemeindewahlen vom Februar 2016 zusammen. Der Stadtrat will die Initiative bodigen, denn ihr stehen so viele Privatinteressen entgegen.» In der Tat scheint es, als würde der Volksauftrag wie eine heisse Kartoffel hin und her geschoben.

Schwimmen oder umkehren und über die Hauptstrasse ausweichen: Das ist an diesem Punkt des Weges in La Tour-de-Peilz die Frage. swissinfo.ch

Schmerzlicher Prozess

Von Behördenseite heisst es, es gebe Fortschritte, wenn der Prozess auch «schmerzvoll» verlaufe.

«Es braucht das Einverständnis verschiedener Parteien. Die Besitzer müssen gewisse Rechte behalten. Es gibt auch die kantonale Behörde für Gewässer und Umwelt. Es ist ein breiter politischer Wille notwendig, das umzusetzen, was momentan noch nicht vorhanden ist», sagte Bürgermeister Lyonel Kaufmann im September am Westschweizer Fernsehen (RTS).

Im Juli hatte die Waadtländer Kommission für SeeuferExterner Link eine Studie mit verschiedenen Weg-Varianten vorgelegt. Es ist aber ungewiss, ob sich die Parteien bis Ende Jahr auf eine Version einigen können.

Nicole Rimella, Leiterin der Planungskommission von La Tour-de-Peilz, ist persönlich gegen den Uferweg. Die Gemeinde sei zum Vorwärtsmachen gezwungen, aber die Mitglieder der Seeufer-Kommission könnten sich nicht auf das weitere Vorgehen einigen, kritisiert sie. «Wir machen einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Es ist ein politisches Seilziehen zwischen links und rechts.»

Die Seeufer-Kommission beruft sich auf ihren Status als beratendes Organ, da werde nichts verzögert, denn die letztendliche Verantwortung liege bei den Behörden von La Tour-de-Peilz.

«Wir sind für den Uferweg, aber die Lösung muss verhältnismässig sein», sagt Philippe Hohl, Leiter des Umweltdepartementes des Kanton Waadt. «Technisch ist es kein Problem. Was das Projekt bremst, ist das Finden der richtigen Balance zwischen einem Weg, der einerseits nicht zu nah an den Privathäusern vorbeiführt, andererseits auch nicht die Landschaft entlang des Sees beeinträchtigt. Es ist ein tatsächliches Aufeinanderprallen von privaten und öffentlichen Interessen», so Hohl.

Ermüdendes Pingpong

Ermüdet ob der endlosen Verzögerungen und des Hin und Hers, hat die lokale Vereinigung Rives du LacExterner Link einen neuen Vorschlag auf den Tisch gebracht. Dieser ist minimalistisch und billig. Es geht darum, Tore und Zäune zu öffnen, welche die Grundbesitzer errichtet haben, und, wo vorhanden, bestehende Wege über Steine und Kieselsteinstrände zu nutzen. An Bauten sind hauptsächlich Stufen und Leichtmetallroste entlang der Ufermauern vorgesehen. Das soll mit 1,5 Mio. Franken nur halb so viel kosten wie das ursprünglich von den Initianten veranschlagte Budget.

Das Recht auf öffentlichen Durchgang bestehe auf einem der beiden versperrten Kilometer, ist die Meinung bei Rives du Lac. Die betroffenen Grundeigner müssten nicht enteignet werden, aber das geltende Gesetz müsse angewendet werden.

Der aktuelle Stillstand sei ein «Schlag ins Gesicht der lokalen Stimmbevölkerung», sagt Geneviève Pasche, Präsidentin der Vereinigung Rives du Lac. «Was ist der Sinn von Abstimmungen, wenn Politiker machen, wonach ihnen zumute ist?», fragt sie. Die Organisation hatte sich im Sommer 2013 bei der Kantonsregierung beschwert. Diese forderte die Lokalbehörden von La Tour-de-Peilz auf, unverzüglich zu handeln.

Hier sollte der Uferweg in La Tour-de-Peilz vorbeiführen (Youtube-Video, französisch):

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«Kein Zwang»

«Wir haben kein Zwangsmittel in der Hand, denn in der Schweiz ist Stadtplanung Sache der Gemeinden, die sie umsetzen müssen», beklagt Jacques Vallotton, sozialdemokratisches Mitglied des Gemeinderates (Exekutive).

«Es gibt zwar das Recht, eine Volksinitiative einzureichen. Aber es sind keine gesetzlichen Massnahmen vorgesehen, falls die lokalen Behörden die Forderungen einer Initiative nicht erfüllen», doppelt Geneviève Pasche nach.

Die Kritiker könnten theoretisch vor Gericht, sagt der Schweizer Politologe Andreas Ladner. Aber es wäre sehr schwierig, der Lokalbehörde nachzuweisen, dass die den Bau des Uferweges behindere, so der Professor an der Universität Lausanne, die am Genfersee liegt. Der einzige Weg, der ihm gangbar erscheint, um die Dinge anzuschieben, sieht Ladner darin, den Uferweg zum Thema der anstehenden Kommunalwahlen zu machen.

Wie auch immer: Bis zur durchgehenden Verbindung des Seeuferweges dürfte es in La Tour-de-Peilz noch Jahre dauern. Laut Gemeinderat Vallotton werde die Planungsphase bis 2022 erstreckt. Laut dem traditionellen System der Demokratie haben die Bürger in der Schweiz in Sachen Raumplanung ein Mitspracherecht. Reiche Besitzer von Grundstücken am See werden aber mit aller Wahrscheinlichkeit Einspruch erheben, sehen sie doch ihre Rechte als Privateigentümer in Gefahr.

Zugang zu See- und Flussufer

Nur rund die Hälfte der Ufer von Schweizer Seen sind für die Öffentlichkeit zugänglich. In einer Umfrage von 2007 wollten über 61% der Schweizerinnen und Schweizer freien Zugang zu Gewässern. In der Westschweiz waren es 71,6%, in der Deutschschweiz nur 58%, während die Zustimmung unter den Jungen 80% betrug.

Der öffentliche Zutritt zu Gewässern ist in der Schweiz durch eine Vielzahl von Gesetzen gesichert. Dies unter anderem im Gewässerartikel 664, Absatz 2 des Zivilgesetzbuches von 1907. Dieser schliesst «…Privateigentum an den öffentlichen Gewässern, inklusive deren Uferpartie» aus.

Lokalbehörden würden praktisch nie die Gesetze anwenden, um sich zurückzuholen, was private Grundbesitzer «konfisziert» hätten, beklagt die Vereinigung Rives du Lac, die sich für freien Zugang zu Gewässern einsetzt.

Privateigentümer und auch das Bundesamt für Raumentwicklung sehen das anders. Letzteres hielt 2008 fest, dass Schweizer Bürger nicht auf dieses Recht klagen könnten. Gemäss den Juristen des Bundes sagt das Gesetz, dass der Zugang möglich sein solle. Eine Garantie aber bestehe durch das Gesetz nicht.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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