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Für das Notrecht in der Coronakrise braucht es Exit-Strategien

Eine starke Agenda zur Wiederherstellung und Weiterentwicklung der Demokratien: Dies das Fazit von swissinfo.ch-Autor Bruno Kaufmann in seiner Analyse zu den Gefahren durch die aktuellen Notstandsregimes. Die Wiener Politikwissenschafterin Tamara Ehs hat den Ball aufgenommen und eine To-Do-Liste erstellt, damit Demokratien in der Coronakrise und danach möglichst robust bleiben.


Die Arbeit einer Demokratiewissenschafterin besteht darin, die Ausübung und Weiterentwicklung (manchmal auch den Abbau) demokratischer Grundrechte national und international zu beobachten, zu analysieren und in Kontext zu setzen, schliesslich die Erkenntnis in der universitären Lehre oder ausseruniversitär in der politischen Bildung der Öffentlichkeit zuzuführen.

Tamara Ehs
Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Priv.

Aufgrund der Absage zahlreicher Seminare, Vorträge und Workshops besteht mein Arbeitsalltag derzeit im Verfassen wissenschaftlicher Texte und in der Beantwortung zahlreicher Interview-Anfragen.

Besonders oft wird mir die Frage gestellt, ob die Demokratie in Gefahr sei beziehungsweise, inwiefern sie sich durch die Coronakrise ändert. Ich habe daher eine (gern zu erweiternde) Liste angelegt, was für die Verteidigung der Demokratie nun zu tun ist. Denn auch wenn wir immunologisch naiv sind, können wir uns mit Blick über die Grenze oder in unsere eigene Geschichte doch gegen einen Shutdown der Demokratie sehr wohl zur Wehr setzen.

To-Do-Liste «Demokratie in der Coronakrise»:

● Demokratie braucht die physische Begegnung, um sichtbar zu sein. Daher müssen Parlamente weiterhin tagen, solange es ihnen nur irgendwie möglich ist – wenn nötig in geschrumpfter Zusammensetzung oder in abgetrennten Räumen verbunden durch Videokonferenz, aber sie müssen zusammentreten und dürfen nicht ihrer Quasi-Ausschaltung zustimmen, etwa indem sie einen Notausschuss beantragen.

Das österreichische Parlament hat sich für eine Verkleinerung gemäss Mehrheitsverhältnissen entschlossen. Diese Woche tritt der Nationalrat mit 96 Abgeordneten zusammen; also gerade hinreichend genug, um auch Verfassungsgesetze zu beschliessen. Für den Beschluss einfacher Gesetze wäre übrigens sogar nur ein Drittel, also 61 Abgeordnete, genug.

● Jede Massnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – muss ein Befristungsdatum erhalten. Und jede Verlängerung einer einmal gesetzten Massnahme muss aufs Neue der Diskussion unterliegen und darf nicht einfach durchgewunken werden. Zu gross ist die Gefahr eines ewig verlängerten Ausnahmegesetzes, das womöglich, wenn wir uns erst daran gewöhnt haben, in den gewöhnlichen Rechtsbestand übergeht.

«Die grundlegende Frage ist: Wie kommen wir aus der Demokratiequarantäne wieder als offene Gesellschaft raus?»

● Politische Verantwortungsträger*innen müssen Exit-Strategien vorlegen. Denn die grundlegende Frage ist: Wie kommen wir aus der Demokratiequarantäne wieder als offene Gesellschaft raus? Ab wann setzt eine Gewöhnung an den autoritären Massnahmenstaat ein, der uns doch so erfolgreich schützt?

● Es gibt nicht nur die ökonomischen Kosten der Coronakrise, sondern auch gesellschaftliche Kosten sind zu kalkulieren. Dem Stab an Berater*innen, den die Regierung versammelt, müssen daher auch Soziolog*innen, Psycholog*innen, Historiker*innen etc. angehören. Der Eingriff in die offene Gesellschaft kann traumatisierend wirken, weswegen die Coronakrise auch sozialwissenschaftliche Antworten benötigt.

● Dass Demokratie physische Begegnung benötigt, gilt auch für die Zivilgesellschaft und die ausserparlamentarische Opposition. Sie trifft das Versammlungs- als physisches Demonstrationsverbot besonders hart. Der digitale Raum kann den öffentlichen niemals ersetzen, nicht zuletzt weil wir bei einer digitalen Verabredung immer mitbedenken müssen: Wie weit geht die Überwachung? Wer hört, wer liest mit? Zudem gibt es auch klassen- und bildungsspezifische Ungleichheiten beim Zugang zu digitalen Medien. Es macht einen ein Unterschied, das Versammlungsrecht wahrzunehmen und vor dem Bundeskanzleramt zu protestieren oder online die Stimme zu erheben. Im virtuellen Raum kann man nicht laut sein, nicht physisch Präsenz zeigen.

● Nichtsdestotrotz müssen sich Bürger*innen, Wissenschafter*innen und die organisierte Zivilgesellschaft weiterhin und gerade jetzt kritisch einmischen. Sei es in Gastkommentaren, Leserbriefen oder indem sie Plakate aus dem Fenster hängen. Die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit darf selbst in dieser Krise nicht aufgegeben werden. Wir alle tragen Verantwortung, wenn wir die Verschiebung der rechtlichen Massstäbe schweigend hinnehmen. Diskussion und Widerspruch müssen aufrechterhalten und dürfen nicht einem kritiklosen «Wir-Gefühl» des eingeforderten «Team Österreich» geopfert werden.

«Eine Viruspandemie ist kein «Krieg». Es gilt kein Kriegsrecht. Demokratie ist eine Kulturtechnik, daher sind autoritäre und paternalistische Aussagen tunlichst zu vermeiden.»

● Daran anschliessend: Die Meinungsfreiheit gehört in der aktuellen Situation zu den besonders zu verteidigenden Rechtsgütern. Da Beschränkungen des Vereinsrechts, der Religionsfreiheit oder des Persönlichkeitsrechts (z.B. politische Mitstreiter*innen zu treffen) und insbesondere das Versammlungsrecht eingeschränkt sind, bleibt der Zivilgesellschaft nur die online ausgeübte Meinungsfreiheit. Seitens der Regierung gegen «Fake News» vorzugehen, wie es z.B. die britische Regierung unternimmt, oder gar Bussgelder für die Verbreitung von Desinformation zu erteilen, wie es deutsche Politiker*innen fordern, schiesst über die Grenzen des Rechtsstaates hinaus.

● Hierbei gilt es für alle Teilnehmer*innen des öffentlichen Diskurses und besonders für die handelnden Entscheidungsträger*innen, auf ihre Wortwahl besonders Bedacht zu nehmen. Eine Viruspandemie ist kein «Krieg». Es gilt kein Kriegsrecht. Demokratie ist eine Kulturtechnik, daher sind autoritäre und paternalistische Aussagen tunlichst zu vermeiden: Keinesfalls ist der Bevölkerung mit einer weiteren Einschränkung ihrer Grundrechte zu drohen, wenn sie die Benimmprobe nicht besteht. Freiheitsrechte sind nicht etwas, was der Staat gewährt, sondern etwas, das er gewährleistet!

Die Autorin

Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist Tamara EhsExterner Link selbstständige Beraterin für Demokratie-Innovationen und als solche vor allem für Städte und Gemeinden in Österreich und Zentraleuropa tätig.

Im Bereich politische Bildung leitet sie Workshops für Erstwähler*innen und hat mit Kollegen der IG Demokratie die «Demokratie Repaircafés» ins Leben gerufen. Die Autorin auf Twitter: @Tamara_EhsExterner Link

 

Dieser Beitrag ist am 1. April 2020 auf der Online-Plattform für Wissenschaft der Austria Presse Agentur (APA) erschienen (Dossier «Corona – Geschichten aus dem Krisen-Alltag»Externer Link). 

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken. 

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