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Das Coronavirus greift weltweit auch die Demokratien an

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Auch das Schweizer Parlament, hier der Saal der grossen Kammer, ist verwaist. Immerhin ist auf Anfang Mai eine Sondersession von National- und Ständerat zur Coronakrise angesetzt. Keystone / Anthony Anex

Die Pandemie mit dem neuen Coronavirus bringt die Welt zum Stillstand. Öffentliche Aktivitäten sind eingestellt – sogar die Premiere des neuesten James-Bond-Films wurde abgesagt. Der Lockdown betrifft auch die Demokratien: Rund um den Globus werden Volksabstimmungen verschoben. Aber Autokraten, Populisten und Nationalisten sollten sich nicht zu früh freuen.

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Coronavirus: Die Situation in der Schweiz

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Warum wir bis auf Weiteres keine wöchentlichen Meldungen mehr zu den Infektionen mit dem Coronavirus publizieren.

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Die Welt steht vor dem Unfassbaren. Auslöser ist das Virus mit dem Namen Sars-CoV-2. «Die Lungenkrankheit Covid-19 bedroht die gesamte Menschheit», sagte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres jüngst. 

Die Pandemie trieb mehr als drei Milliarden Menschen in die Isolation in den eigenen vier Wänden. Was die Wirtschaft betriff, befürchten Experten die schlimmste Rezession der Nachkriegszeit.

Klar ist: Zum jetzigen Zeitpunkt kann niemand das genaue Ausmass und die Folgen der Krise vollständig abschätzen. «Wir müssen verstehen, dass nicht wir es sind, die den Zeitplan festlegen, sondern das Virus», sagte der Infektionsexperte Anthony Faucie aus dem Weissen Haus in Washington. Zuvor hatte US-Präsident Donald Trump über eine mögliche Lockerung der Beschränkungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus gesprochen.

In Arboga, einer kleinen Stadt in Schweden, wo ich lebe, erhielt ich vor einigen Wochen ein erstes Gefühl für die Dringlichkeit der neuen Situation. Nach meiner Rückkehr von einer Reportage-Reise in die Arktis sah ich in meiner Lokalzeitung die Schlagzeile: «Schulreferendum soll verschoben werden». Ausgerechnet: Die Reform wäre die erste von Bürgerinnen und Bürgern initiierte Volksabstimmung auf lokaler Ebene gewesen.

Die Gefahr der unkontrollierten Exekutivkräfte in der Coronakrise – aktuelle Artikel (teils in Englisch):

+»To-Do-Liste «Demokratie in der Coronakrise»Externer Link; Tamara Ehs, Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW)
+ «Externer LinkFor Autocrats, and Others, Coronavirus Is a Chance to Grab Even More Power»Externer Link; The New York Times
+ «Democracy in critical care as coronavirus disrupts governments»Externer Link; Politico
+»Will the coronavirus ‹kill populism›? Don’t count on it»Externer Link; Cas Mudde,  The Guardian.

Es war dies der erste Tropfen, der in Windeseile zu einem Tsunami zur weitgehenden Stilllegung der partizipatorischen und direkten Demokratie auf globaler Ebene anschwoll

So auch in meinem Heimatland, der Schweiz. Die Regierung hat die bevorstehende Volksabstimmung vom 17. Mai über die Volksinitiative zur Aufkündigung des freien Personenverkehrs mit der EU abgesagt. Laufende Unterschriftenaktionen für Initiativen und Referenden, sonst an strikte Fristen gebunden, sind ausgesetzt.

Präsident auf Lebenszeit›? Vertagt!

In anderen Teilen der Welt ist es nicht anders. In den Vereinigten Staaten, wo am 3. November die Präsidentenwahlen über die Bühne gehen sollen, sind die millionenteuren Kampagnen auf Eis gelegt und Unterschriftensammlungen Externer Linkunterbrochen.

In Chile, wo die Bürgerinnen und Bürger im vergangenen Jahr eine umfassende Revision der Verfassung in Angriff nahmen, ist die Abstimmung vom 26. April zur endgültigen Beerdigung der Pinochet-Ära ausgesetzt.

Sogar in einer Wahlautokratie wie Russland – das Land rangiert im kürzlich veröffentlichten Demokratie-Rangking des grossangelegten, internationalen Forschungsprogramms Varieties of Democracy (V-Dem) auf Platz 179 von 202 Ländern – hat die Pandemie Wladimir Putin aufgezwungen, eine für den 22. April angesetzte konsultative «Volksabstimmung» zu verschieben. Darin hätte sich der Kremlführer zum «Präsidenten auf LebenszeitExterner Link» wählen lassen wollen.

Notrecht oder der Griff der Exekutiven in die Machtbüchse

Die Coronakrise endet aber nicht in den Absagen von Urnengängen aller Art und dem Not-Aus für Bürgeraktivitäten im politischen und im Freizeitbereich. In vielen Ländern haben die Regierungen auch die Parlamente ausgeschaltet. Insbesondere dort, wo die Exekutiven den Ausnahmezustand ausgerufen haben.

Zu diesen Fällen gehört einer der Spitzenreiter des V-Dem-Berichts: Norwegen. Dort hat die Minderheitsregierung von Premierministerin Erna Solberg versucht, das Parlament auszuboten, indem sie durch eine «Korona-Krisengesetzgebung» unbegrenzte Befugnisse beanspruchte.

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In Ungarn hat die Nationalversammlung am Montag eine «unbegrenzte Verlängerung des derzeitigen Ausnahmezustands»Externer Link beschlossen. Damit kann die Regierung, sprich Viktor Orbán, per Dekret regieren. Und das auf unbegrenzte Zeit. Das Parlament hat also quasi der eigenen Entmachtung zugestimmt. 

Neu sind in Ungarn auch «Gefängnisstrafen für diejenigen vorgesehen, von denen angenommen wird, dass sie falsche Informationen verbreiten». Was falsche Informationen sind, bestimmt Ministerpräsident Viktor Orbán.

Maskierte Kandidaten

Aber genau wie Hauptdarsteller Daniel Craig im neuesten Bond-Streifen – die Premiere soll nun am 12. November steigen – sagt: «No Time to Die». Auch für die Demokratie ist es «keine Zeit zu Sterben». Dies gilt insbesondere für die erfolgreichste und menschlichste Regierungsform der Geschichte: die moderne repräsentative Demokratie.

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Wahlkampf zu Zeiten der Coronakrise: Verteter der oppositionellen United Future Party bei einer Medienkonferenz in Soeul, Südkorea hält an den Parlamentswahlen von Mitte April fest, Keystone / Yonhap

Ganz im Gegenteil. Nur wenige hundert Kilometer vor der Küste Chinas liefern fortgeschrittene und lebendige demokratische Nationen wie SüdKorea und Taiwan Beispiele dafür, wie man die Pandemie auf effiziente UND demokratische Weise in den Griff bekommen kann.

Während sie schnell und entschlossen auf die Bedrohung durch das Virus reagierten, gelang es den Regierungen in Seoul und Taipeh auch, die grundlegenden demokratischen Rechte und Freiheiten ihrer Bevölkerung zu wahren. 

In Südkorea werden die bevorstehenden Parlamentswahlen am 15. April wie geplant stattfinden – wenn auch mit Kandidaten, die unter besonderen Bedingungen Wahlkampf machen.

In Norwegen hat das Parlament den Versuch der Regierung, die geballte Macht an sich zu reissen, erfolgreich abgeschmettert. In der Schweiz haben sich die beiden Kammern des Parlaments nach einiger Zeit in der Versenkung darauf verständigt, Anfang Mai eine Sondersitzung abzuhalten. Dabei wollen die beiden Kammern die umfassenden Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Coronakrise überprüfen. 

Nur gilt es hier eines klar festzuhalten: Die Massnahmen der Regierung im Krisenmanagements sind voll und ganz abgedeckt durch das Epidemiengesetz. Eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger hat diesem an der Urne den Segen gegeben.

Kampf um mehr Mitsprache auf lokaler Ebene 

Auf globaler Ebene gibt es für Autokraten, Nationalisten und Populisten nur sehr wenig Grund zum Frohlocken, mit der Corona-Pandemie die ungeliebte Demokratie zu beseitigen.

Im Gegenteil: Die Pandemie bietet der Welt ein mächtiges Fenster in eine Zukunft, in der lokale Autonomie, digitale Tools zur Bürgerbeteiligung und transnationale Zusammenarbeit eine grössere Rolle spielen könnten als heute.

Dies bedeutet für die modernen repräsentativen, starken Demokratien aber auch, dass sie sich diesen globalen Veränderungen anpassen müssen. Nur so können sie relevant und erfolgreich bleiben. 

Derzeit stellen die Forschenden von V-Dem ein Eindringen von elitären, populistischen, autokratischen und nationalistischen Merkmalen in viele Demokratien fest. Also müssen umfassende Reform-Agenden gefunden werden, um die Demokratisierung auf allen politischen Ebenen zu sichern und voranzutreiben. Nur so kann die gegenwärtige Entwicklung ausgeglichen werden.

Dort daheim, wo der Fluss zur Person wird

Daheim in meiner kleinen schwedischen Stadt, wo mich der Lockdown für eine unbestimmte Zeit festhalten wird, habe ich nun Zeit, Vorschläge für eine neue Kampagne für die Abstimmung über die Schulreform auszuhecken. Als Mitglied des lokalen Flussrates habe ich nun auch genügend Zeit, alle Unterlagen zum geplanten rechtlichen Status unseres Flusses zu studieren. Dieser soll nämlich den Status einer rechtsfähigen Persönlichkeit erhalten.

Darüber hinaus werde ich, wie viele von uns, die Gelegenheit nutzen, um die modernsten Werkzeuge für die virtuelle Begegnung und Zusammenarbeit zu erlernen.

Letztendlich kann uns die anhaltende Verlangsamung des öffentlichen und privaten Lebens Lehren erteilen, wenn es darum geht, geduldig und engagiert für eine gemeinsame Sache zu sein. Aber während die Korona-Pandemie irgendwann vorbei sein wird, ist der Weg zur Demokratie einer ohne Ende. 

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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