Zentralismus-City macht auf Bürgerbeteiligung
Partizipatives Budgetieren, Bürgerbefragungen zur Stadterneuerung: Die französische Hauptstadt Paris probiert ein direktdemokratisches Kleid an. Der Versuch aber ist einigermassen limitiert. Vorbild ist denn auch eher Brasilien und nicht die Schweiz.
37 Mio. Euro: so gross ist der BürgerhaushaltExterner Link, über den die Einwohner der französischen Kapitale bestimmen konnten. Dazu konnten sie Projektvorschläge einreichen, über die sie anschliessend abstimmten.
Ende September gab Bürgermeisterin Anne Hidalgo die Ergebnisse dieser Premiere bekannt: Mit über 15’000 Stimmen auf Platz 1 landete der Bau von Velo-Fahrstreifen für 8 Mio. Euros. Die zweitgrösste Stimmenzahl erzielte die Aufwertung der Fussgängerzonen. Weitere Projekte, die sich die Einwohner wünschen: Die Schaffung von Gemeinschaftsgärten, den Bau von 40 Trinkwasser-Brunnen oder 10’000 Quadratmeter auf Balkonen und Dächern zum Gemüseanbau, dem so genannten Urban Farming.
Die Abstimmung, an der sich rund 67’000 Pariserinnen und Pariser beteiligten, stand auch Ausländern und Minderjährigen offen. Dennoch markiert der Wert nur 3% der Bewohner der Hauptstadt. Und trotzdem: Für Paris als Kapitale und Inbegriff des Zentralismus, wo die Einwohner einmal pro Jahr um ihre Meinung gefragt werden, ist die Zahl dennoch beachtenswert.
25 Jahre Bürgerhaushalte
Das Konzept zum partizipativen Budget stammt aus Brasilien Ende der 1980er-Jahre.
Die Zahl der Gemeinden, die Bürgerhaushalte einführten, nahm danach stetig zu. 2000 machten in Brasilien 140 Kommunen mit. Ziel ist die Umverteilung von Ressourcen an die Ärmsten.
Heute kennen Länder in vier Kontinenten dieses Instrument: Ecuador, Peru und Argentinien (Südamerika); Deutschland, Polen, Portugal und Grossbritannien (Europa) sowie Länder in Afrika und Asien.
In Europa steht die Frage der sozialen Gerechtigkeit weniger stark im Vordergrund als in Lateinamerika. Hier geht es mehr um die Verbesserung der Effektivität des öffentlichen Handelns und die Modernisierung der repräsentativen Demokratie durch die Partizipation der Bürger im öffentlichen Leben.Externer Link
Chengdu in China, Hauptstadt der Provinz Sechuan, legte 2014 seinen Einwohnern einen Bürgerhaushalt von 270 Mio. EuroExterner Link vor, so viel wie keine andere Stadt weltweit.
(Quelle: Deza, Zeitung Le Monde)
«Ich will den Schlüssel zum Haushalt den Bürgern überreichen», versprach die Sozialistin Hidalgo nach ihrer Wahl im letzten Jahr. Vorbilder waren Porto Alegre, New York oder Lissabon, wie Hidalgos Stellvertreterin Pauline Véron bestätigt. Die Schweiz mit ihrer Jahrhunderte alten Erfahrung mit direkter Demokratie erwähnt die Verantwortliche für Lokaldemokratie in der Pariser Stadtregierung mit keinem Wort.
Zu exotisch?
«Das Schweizer Modell wurde nie erwähnt», sagt auch Loïc Blondiaux, Professor für politische Wissenschaften an der Universität Sorbonne. «Zu exotisch oder zu spezifisch», vermutet er als Grund. «Vergessen wir nicht, dass es sich hier um direkte Demokratie an der kurzen Leine handelt: Die Bürger werden in den Entscheidungsprozess einbezogen. Aber es geht nicht darum, ihnen die Macht zu geben.»
2015 hat Paris 37,3 Mio. Euro für den Bürgerhaushalt reserviert, das sind rund 5% aller Ausgaben. Das sei mehr als die meisten anderen Städte, welche direkte Demokratie kennten, rühmt sich die Seine-Stadt.
Anfang 2015 konnten die Einwohner im Internet Vorschläge einreichenExterner Link. «Wir haben 5115 Einsendungen erhalten, womit unsere Erwartungen übertroffen wurden», sagt Pauline Véron. Dann nahm die Stadtverwaltung eine Triage vor. Ausschlaggebend waren zwei Kriterien: Bei den Projekten musste es sich um eine Kapitalinvestition handeln statt einer betrieblichen. Zudem mussten sie von allgemeinem Interesse sein. Ein Drittel der Vorschläge war damit aus dem Rennen. Die anderen wurden akzeptiert, wovon einige mit anderen fusioniert wurden. Am Schluss blieben 654 Projekte, zu denen sich die Einwohner äussern konnten.
Es beginnt mit der Verschönerung der Stadt
«Momentan ist die partizipative Demokratie in Paris noch eine Angebotspolitik, die von den Behörden sehr stark kontrolliert wird», erklärt Loïc Blondiaux. «Die meisten Vorschläge haben mit der Verschönerung der Stadt zu tun. Der nächste Schritt besteht darin, den Prozess auf die grossen Projekte zur Stadtentwicklung auszuweiten.»
Der Laborversuch von Paris wecke das Interesse anderer Städte in Frankreich und Europa, freut sich Pauline Véron. Montreuil wird ebenfalls seine Bürger über Projekte abstimmen lassen, Rennes hat entsprechende Pläne in der Schublade. Und Vertreter der Behörden der spanischen Hauptstadt Madrid haben sich angemeldet, um sich an der Seine ein Bild vor Ort zu verschaffen.
Die Bürgerbeteiligung ist aber nicht bloss aufs Budget beschränkt: Am 12. Oktober sind gut 30 Einwohner des 12. Arrondissements der Einladung des dortigen Bürgermeister-Amtes gefolgt und haben über die Neugestaltung der historischen Place de la Bastille diskutiert.
«Man muss den Platz den Bewohnern zurückgeben», sagt die sozialistische Bürgermeisterin Catherine Barrati-Elbaz. Aktuell sei dieser praktisch nicht passierbar. «Versuchen Sie, den Platz auf dem Velo zu überqueren – unmöglich.» Wie andere grosse Plätze, etwa die Concorde, sei der Bastille-Platz ein riesiger Parkplatz für Autos. Statt Lösungen durchzusetzen legt die «Mairie» nun einen Teil der Macht in die Hände der Bürgerinnen und Bürger.
Zentrales Terrain besetzen
Die Bürger des historischen Quartiers beugen sich über einen Plan, den ein Planungsbüro zur Verfügung stellte. Das Thema ist spannend, die Stimmung locker und gelöst, ja herzlich. An diesem Abend verwandeln sich die Bürger in Stadtplanerinnen und –planer, tatkräftig unterstützt durch die Behörden.
Sollte die alte Festung, deren Schleifung 1789 zum Symbol der heutigen Republik wurde, sichtbar gemacht werden? Wenigstens als Grundriss in der Pflästerung? Könnte die «aggressive» Fassade der Oper, ein Erbe aus der Ära Mitterand, durch Bäume etwas verdeckt werden? Einige wollen Pic-Nic-Plätze einrichten, andere die umliegenden Bibliotheken öffnen. Dabei geht vergessen, dass die Place de la Bastille jener Ort ist, wo die politischen Massen-Demonstrationen besorgter oder unzufriedener Bürger nicht nur aus der Hauptstadt, sondern aus dem ganzen Land stattfinden.
«Die Manifestationen sind wichtig, aber manchmal verteidigt jeder einfach nur sein Partikularinteresse», sagt Agnès de Jacquemont. Die Anwohnerin des 12. Arrondissements war schon Mitglied in der Quartierkommission, die Hidalgos Vorgänger Bertrand Delanoë eingesetzt hatte. Ihre ganze damalige Arbeit werde heute plattgewalzt, befürchtet Agnès Jacquelot.
«Am Ende tun sich doch, was sie wollen», seufzt ein anderer Teilnehmer. Bevor alle nach Hause gehen, fixieren die Teilnehmer ein Datum für einen neuen Workshop, diesmal zum Thema «Erfinden wir die Plätze von Paris neu».
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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