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Schweizer Politiker glänzen durch Abwesenheit

Der Schweizer Parlamentarier Roger Köppel (links) fehlte bei wichtigen Abstimmungen, weil er für einen Artikel die Geburtstagsfeier von Hollywoodlegende Kirk Douglas (Mitte) besuchte. Der Vater von Schauspieler Michael Douglas (rechts) wurde 100 Jahre alt. Keystone

Der Parlamentarier Roger Köppel verpasste wichtige Abstimmungen in der Grossen Parlamentskammer, weil er für die Feier zum 100. Geburtstag von Hollywoodlegende Kirk Douglas in die USA reiste. Ist das ein Skandal? Nein, in der Schweiz ist das völlig normal.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Die Schweiz ist eine halbdirekte Demokratie: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wählen einerseits Repräsentanten ins Parlament, andererseits erhalten sie vier Mal im Jahr die Gelegenheit, sich mittels Volksabstimmungen direkt zu bestimmten Sachthemen zu äussern.

Das Element der direkten Demokratie ist trotz einiger Kritik für die meisten Schweizerinnen und Schweizer wichtig, denn das Repräsentativsystem hat eine grosse Schwäche: Der Bürger wählt eine Person, ohne die Garantie zu haben, dass dieser nach seiner Gesinnung abstimmt. Ja nicht einmal, dass er überhaupt abstimmt! Die Boulevardzeitung «BlickExterner Link» titelte vergangene Woche «Darum fehlte der SVP-Nationalrat im Parlament: Köppel feierte mit Kirk Douglas».

Anders als die Zeitung «Blick» es zunächst darstellte, war die Reise Roger Köppels von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) allerdings nicht (oder nicht nur) ein Privatvergnügen. Köppel publizierte in seiner Wochenzeitung «Die WeltwocheExterner Link» einen langen Bericht über die prominente Geburtstagsfeier. «Ich bin hauptberuflicher Verleger, Chefredaktor und Journalist», erklärte Köppel auf Anfrage von swissinfo.ch. «Natürlich musste ich diese einmalige Möglichkeit für meine Zeitung wahrnehmen.»

In der Schweiz sind Parlamentarier nur nebenberuflich Politiker. Im Hauptberuf gehen sie in der Regel einer anderen Beschäftigung nach. Dieses so genannte Milizsystem führt dazu, dass Politiker wegen ihres Hauptberufes nicht immer anwesend sein können – besonders selbständige Unternehmer wie Köppel. 

Milizsystem

In der Schweiz sind sowohl Armee als auch Politik zu grossen Teilen nach dem Milizsystem organisiert. Das bedeutet, dass Armeeangehörige und Politiker ihre Aufgabe nebenberuflich ausüben. Viele politische Ämter in der Schweiz sind quasi Freiwilligenarbeit.

«Klar ist, dass im Milizsystem schweizerischer Prägung diejenigen Parlamentarier, die beruflich stark engagiert sind, ihre Prioritäten nicht immer in der Politik haben», sagt die Politologin Sarah BütikoferExterner Link von der Universität Zürich. «Auch der frühere Bundesrat Christoph Blocher [ein selbständiger Unternehmer und Industrieller, A.d.R.] hatte als Parlamentarier beispielsweise sehr viele Absenzen.»

Lobbyieren statt abstimmen

Köppel ist denn auch bei weitem nicht der einzige Parlamentarier, der durch eine Absenz auffällt. Seit Jahren wird in der Schweiz das «Schwänzen» von nationalen und kantonalen Politikern bei Parlamentsabstimmungen beklagt.

Nicht nur wegen tatsächlicher Absenzen verpassen viele Politiker die Abstimmungen im Parlament. Manchmal auch einfach deshalb, weil sie zum Zeitpunkt der Abstimmung gerade in der Wandelhalle mit Journalisten sprechen, Lobbying-Arbeit machen oder an einer Pressekonferenz teilnehmen.

Die Politikplattform PolitznetzExterner Link hat die Sessionen des Schweizer Parlaments von 2011 bis 2016 ausgewertet. Die durchschnittliche Abwesenheit im Nationalrat (Grosse Kammer) betrug dabei 7% von 5655 möglichen Abstimmungen und jene im Ständerat (Kleine Kammer) 7% von 692 möglichen Abstimmungen. Einzelne Parlamentarier erreichten Spitzenwerte von über 40% und in Sondersessionen gar 80 bis 100%.

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Parlamentarier rennen zum Abstimmen in den Saal

Ganz allein scheint die Schweiz mit dem Problem nicht dazustehen. Auch aus Deutschland kennt man Bilder von leeren SitzenExterner Link im Parlament. Vergleichende Untersuchungen mit dem Ausland fehlen aber.

«Direkte Vergleiche lassen sich nicht so einfach stellen», gibt Bütikofer zu bedenken und weist nebst dem Milizsystem auf zwei weitere Faktoren hin: Das Schweizer Parlament tagt in sogenannten Sessionen vier Mal jährlich (siehe Box links), während Parlamente in anderen Ländern viel regelmässiger zusammenkommen. Zweitens muss man laut Bütikofer nach Rede- und Arbeitsparlamenten (siehe Box unten) unterscheiden.

Sessionsrhythmus

Die beiden Kammern des Schweizer Parlaments (National- und Ständerat) tagen in der Regel vier Mal jährlich für drei Wochen. Diesen Zeitraum nennt man in der Schweiz «Session». Die Sessionen finden im März, Juni, September und November oder Dezember statt und werden entsprechend als Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintersession bezeichnet. In aussergewöhnlichen Fällen können der Bundesrat oder ein Viertel der Mitglieder einer Kammer eine Sondersession einberufen.

Das Schweizer Parlament ist ein Arbeitsparlament: Die vorberatenden Kommissionssitzungen sind für die Gesetzgebung wichtiger als die Plenumsdebatte.

«Ernsthafte Anträge werden in der Kommission eingebracht und eingehend besprochen», erklärt Bütikofer. «In der Plenumsdebatte werden wenige neue Argumente vorgetragen, die meisten Parlamentsmitglieder haben sich ihre Meinung auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt gebildet und kommen dann einfach zur Abstimmung reingerannt – sofern sie überhaupt im Bundeshaus sind.»

Viele Parlamentarier könnten relativ gut einschätzen, wie Abstimmungen ausfallen und dann ihr Verhalten danach richten, meint Bütikofer. Für die Fraktionsführungen sei es aber natürlich vor allem bei umstrittenen Abstimmungen ärgerlich, wenn zu viele Mitglieder fehlten.

So erging es kürzlich der SVP: Nachdem sie wegen fünf abwesenden Parlamentariern knapp eine Abstimmung verloren hatte, diskutiert sie nun gemäss einem Bericht der «NZZ am Sonntag» über eine Änderung des Fraktions-Reglements, um «Schwänzer» an die Kandare zu nehmen.

Bravere Politiker dank Öffentlichkeit

Immerhin: Es ist schon besser geworden – sehr viel besser! Laut einer nicht mehr öffentlichen Berechnung des Politologen Michael Hermann fehlten in der Legislatur von 1995 bis 1999 bei einer durchschnittlichen Abstimmung 27% der Parlamentarier. In der letzten Session betrug die Abwesenheitsquote nur noch 6% im Ständerat und 3% im Nationalrat.

Bütikofer erklärt, dass aufgrund einer Systemänderung die Absenzen seit einigen Jahren öffentlich einsehbar seien. «Dass dies einen Einfluss auf das Verhalten von Parlamentariern hat, das heisst die Absenzenquote sinken liess, ist unbestritten.»

Es ist also ein bisschen wie bei schwänzenden Schülern und Schülerinnen: Sobald das Absenzenheft den Eltern vorgelegt werden muss, haben sie seltener Bauchweh.

Sollen sich Parlamentarier Ihrer Meinung nach hauptberuflich auf die Politik konzentrieren? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

Rede- und Arbeitsparlamente

In sogenannten Arbeitsparlamenten werden Gesetzesvorlagen überwiegend in Kommissionen (oder Ausschüssen) und Fraktionen bearbeitet. Die anschliessende Debatte im ganzen Rat hat hauptsächlich eine Informationsfunktion. Beispiele sind nebst dem Schweizer Parlament der Deutsche Bundestag, der US-Kongress und das Europaparlament.

Als Redeparlamente werden hingegen Abgeordnetenhäuser bezeichnet, in denen Gesetzesvorlagen hauptsächlich im Plenum bearbeitet werden, und die Debatten eine entsprechend höhere Relevanz haben. Beispielhaft ist hierfür vor allem das britische Unterhaus.

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