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Der lange Weg der Auslandschweizer zu Bürgern erster Klasse

Gemeindehaus mit Plakat, das auf den kommende Abstimmungssonntag hinweist.
Bis 1992 waren Auslandschweizer nur in der Schweiz stimm- und wahlberechtigt. Keystone

Das Stimm- und Wahlrecht für Auslandschweizer ist eine der grössten Zangengeburten in der Geschichte der Schweizer Politik. Erst seit 1977 können Auslandschweizer stimmen und wählen. Kritiker fordern regelmässig zeitliche oder gar inhaltliche Begrenzungen. Solche wären eine Einschränkung der Wahl- und Abstimmungsfreiheit, sagt eine Spezialistin

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Man vergisst schnell: Die Schweiz war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein klassisches Auswanderungsland. Die beiden Weltkriege und Wirtschaftskrisen sorgten dafür, dass viele Schweizer gezwungen waren, ihr Glück draussen in der Welt zu versuchen.

Nadja Braun Binder, Staatsrechtlerin an der Universität Zürich.
Nadja Braun Binder. zVg

Wohin es sie auch verschlug: Mit dem Wohnsitz in einem anderen Land Europas, in Nord- oder Südamerika, Russland, Australien oder in Asien kappten sie eine wichtige Verbindung zur Schweiz – das Wahl- und Stimmrecht.

Es galt das Wohnsitzprinzip: Nur Schweizer, die in der Schweiz lebten, konnten abstimmen und wählen. Das blieb so bis 1975 resp. 1977. Zum Vergleich: Bis 1971 hatte es gedauert, bis in der Schweiz auch die Frauen an die Urnen durften.

Seit 1874 Thema

Zwar habe es seit 1874 zahlreiche Vorstösse zur Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Auslandschweizer gegeben, sagt Nadja Braun Binder. Doch diese hätten noch über ein Jahrhundert lang als Schweizer Bürger zweiter Klasse gegolten, so die Assistenzprofessorin für Öffentliches Recht und europäische Demokratiefragen am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA).

Die Wende wurde 1966 eingeläutet, mit dem «Auslandschweizer-Verfassungsartikel». Dieser war die Grundlage, damit der Bund Auslandschweizern politische Rechte gewähren konnte. Und wieder vergingen ein paar Jahre.

1975 listete der Bundesrat in seiner Botschaft über die politischen Rechte der Auslandschweizer Argumente auf, die für und gegen die Erweiterung der politischen Rechte auf die Fünfte Schweiz sprachen. 

Pro:

 ●  Das Stimm- und Wahlrecht trägt zur Auseinandersetzung mit dem politischen Geschehen in der Schweiz bei und stärkt so die Bande zur Heimat;

 ●  Auslandschweizer sollten sich nicht mehr als «Bürger zweiter Klasse» fühlen;

Andere Länder, andere Sitten

2006 gewährten 93 Länder ihren Bürgern im Ausland das Wahlrecht. Die meisten entfielen auf Europa (36) und Afrika (21). Neuere Zahlen sind nicht erhältlich.

Die Ausgestaltung dieser Rechte handhaben die Länder unterschiedlich.

Unbeschränkt: Österreich: Bedingung: Registrierung alle zehn Jahre. Frankreich. Portugal. Spanien. USA. Indien: Ausnahme: Doppelbürger.

Inhaltlich beschränkt: Italien: Wahlrecht bei Parlamentswahlen in Ländern mit diplomatischer Vertretung. Niederlande: für Wahlen in Repräsentantenhaus und Europaparlament.

Zeitlich beschränkt: Kanada: auf 5 Jahre (mit Ausnahmen). Schweden: 10 Jahre. Grossbritannien: 15 Jahre. Deutschland: 25 Jahre.

Stimmzwang: Belgien: freiwillige Registrierung, aber danach Stimmzwang. Brasilien: gilt für Bürger im In- und Ausland.

Verbot: Irland. Ausnahmen: Armeeangehörige, Diplomaten.

 ●  Wer nur kürzere Zeit im Ausland weilte, etwa Wissenschaftler, Studenten, Techniker, Firmenangestellte, Entwicklungshelfer etc., sollte die Beziehungen zur Schweiz aufrechterhalten können;

 ●  Viele politische Vorlagen würden auch die Anliegen der Auslandschweizer betreffen;

 ●  Es sei störend, dass Auslandschweizer, die in der Schweizer Armee ihren Dienst leisten, nicht einmal in dieser Zeit an Abstimmungen teilnehmen können;

 ●  Ausserdem betrachtete der Bundesrat die Einführung des Stimmrechts für Auslandschweizer aus psychologischen Gesichtspunkten. Auslandschweizer sollten sich nicht mehr als Bürger zweiter Klasse fühlen. Dahinter stand auch die Überzeugung, dass die Auslandschweizer Stimmen keine politischen Veränderungen bringen würden.

Kontra:

 ●  Das Stimm- und Wahlrecht für Auslandschweizer bedeutet einen Widerspruch zum bisherigen Wohnsitzprinzip;

 ●  Die räumliche Distanz erschwert das Erfassen der politischen Verhältnisse in der Schweiz. Vorlagen bei Sachabstimmungen und Kandidaten bei Wahlen sind zu wenig bekannt.

Nur in der Schweiz

In der Debatte im Schweizer Parlament war die Neuerung dann laut Nadja Braun Binder unbestritten. 1975 verabschiedeten National- und Ständerat das neue Gesetz. Dieses trat schliesslich 1977 in Kraft.

Vorerst aber konnten Auslandschweizer nur auf Schweizer Territorium abstimmen und wählen. Die Stimmrechtsunterlagen mussten auf Stimmregisterbüro der Stimm- oder der Anwesenheitsgemeinde abgeholt werden. Die Stimme konnte sodann unmittelbar nach Entgegennahme des Stimmmaterials im Stimmregisterbüro oder später im Stimmlokal ausgeübt werden.

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Claudio Kuster.

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«Aber das Stimmrecht auf ewig? Bitte nicht mehr»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Claudio Kuster stand am Anfang der aktuellen Diskussion um das Stimmrecht für Auslandschweizer. Was er am Stimmrecht der Fünften Schweiz kritisiert.

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Erst ab 1992 konnten sie auch brieflich abstimmen und wählen. Seit 2014 schliesslich bieten acht Kantone Auslandschweizern, die sich dort registrieren liessen, das E-Voting an, die elektronische Stimmabgabe.

Bedingungslos

Die Schweiz knüpft die politischen Rechte ihrer Bürger im Ausland lediglich an eine einzige Bedingung: die Bürger müssen sich bei einem Kanton registrieren. Im Gegensatz zu einer Reihe anderer Länder. Einige setzen, so die Expertin, eine Minimaldauer des Auslandaufenthalts voraus. Damit wollten sie administrativen Aufwand sparen.

Andere verfahren gerade umgekehrt, indem sie das Stimm- und Wahlrecht für ihre Bürger im Ausland zeitlich beschränken. Dieses verfällt etwa in Kanada nach fünf Jahren, in Deutschland nach 25 Jahren (Für eine Länderübersicht siehe Box). Der Gedanke hinter solchen «Verfalldaten»: Wer für eine längere Zeitdauer im Ausland weilt, verliere den politischen Bezug zu seinem Heimatstaat.

Ausland nicht gleich Ausland

Diese Argumentation lasse aber die geografische Verteilung ausser Acht, denn die Zeitdauer im Ausland allein sei kein ausreichendes Indiz für die Qualität der Verbindung zum Heimatstaat, sagt Braun Binder. Wer in Nachbarstaaten lebe, könne eine lebenslange nahe Verbindung zum Heimatstaat beibehalten. 

«Wer in Nachbarstaaten lebt, kann eine lebenslange nahe Verbindung zum Heimatstaat beibehalten.» Nadja Braun Binder

Dagegen könnten Auslandsbürger, die in geografisch und kulturell weit vom Heimatstaat entfernten Gebieten lebten, die Bande zu ihrem Heimatstaat unter Umständen rascher lockern.

Es gibt Stimmen in der Schweiz, die nicht nur eine zeitliche, sondern eine inhaltliche Teilung der politischen Rechte für Auslandschweizer fordern. Diese sollten bei Vorlagen, die ausschliesslich das Inland betreffen, nicht mitmachen dürfen. 

Ein solcher Fall wäre etwa die Unternehmenssteuerreform III gewesen. Die Vorlage, die das Schweizer Stimmvolk im Februar 2017 überraschend klar bachab geschickt hatte, zielte auf eine erleichterte Besteuerung von ausländischen Firmen und Gesellschaften mit Sitz in der Schweiz.

Wahl- und Abstimmungsfreiheit tangiert

Wie die zeitliche wäre auch eine inhaltliche Beschränkung der politischen Partizipation nicht ohne Weiteres mit dem Grundsatz der Wahl- und Abstimmungsfreiheit gemäss Schweizerischer Bundesverfassung vereinbar. 

Dasselbe gilt laut der Rechtsexpertin auch für eine andere Einschränkung, die schon vorgeschlagen wurde: die Gewichtung der Stimmkraft der Stimmbürger im Inland aufgrund des Betrags, den jemand an Steuern entrichtet. 

Auch eine solche Aufsplittung nach dem Motto «Stimmkraft nach Steuerkraft» würde der Wahl- und Abstimmungsfreiheit zuwiderlaufen.

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