Abstimmungs-Annullierung «peinlich für die Demokratie Schweiz»
Die Berner Kleinstadt Moutier darf vorerst nicht zum Kanton Jura wechseln. Die Abstimmung von 2017 ist annulliert worden. Die Schweizer Presse sieht den Jurakonflikt wieder aufflammen.
Wegen Behördenpropaganda und anderen Unregelmässigkeiten ist die Abstimmung über den Wechsel der Berner Kleinstadt Moutier zum Kanton Jura gestern für ungültig erklärt worden.
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Umstrittene Autonomie-Abstimmung annulliert
Dieser Annullierungsentscheid der Regierungsstatthalterin des Berner Juras hat in der ganzen Schweiz grosse Wellen geworfen. Die Schweizer Presse ist sich einig: Damit flammt der beendet geglaubte Jura-Konflikt wieder auf.
Um Moutier müsse man sich Sorgen machen, titelt beispielsweise die Berner Zeitung. Der alte Konflikt aus dem letzten Jahrhundert werde die gespaltene Stadt für weitere Jahre gefangen nehmen. Die befürchteten Ausschreitungen sind bisher ausgeblieben. Es bleibe zu hoffen, dass die Akteure im gespaltenen Moutier die Spannung bis zur gerichtlichen Klärung aushielten und auf Gewalt verzichteten, so Der Bund/Tagesanzeiger.
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) macht sich weniger Sorgen um Ausschreitungen: Die heisse Phase des jurassischen Freiheitskampfes liege lange zurück. Die Ausgangslage sei anders als früher, als der Kanton Bern das Selbstbestimmungsrecht der Jurassier sogar mit unrechtmässigen Mitteln hintertrieben habe.
«Heute bestreiten weder das Berner Parlament noch die Regierung den Grundsatz, wonach die Stadt über die Kantonszugehörigkeit selber entscheiden können muss.» Die Wut im Jura sei nachvollziehbar – und dennoch stehe sie für einen Konflikt, der sich dem Ende zuneige.
Peinlich für die Demokratie Schweiz
Laut Der Bund/Tagesanzeiger steht mehr auf dem Spiel als nur Moutier. «Für das demokratische Musterland Schweiz wird der Fall Moutier zu einer Peinlichkeit.» Die mehrheitlich projurassischen Stadtbehörden von Moutier hätten sich zu unzulässigen Beeinflussungen der Stimmberechtigten hinreissen lassen, was gravierend sei. «Zu bernischer Selbstgerechtigkeit besteht allerdings kein Anlass», so die Zeitung weiter.
Auch der Kanton Bern habe in den 1970er-Jahren mit heimlichen Zahlungen an probernische Kräfte gegen den Geist der Demokratie verstossen. Laut der Zeitung muss es nun folgendermassen weitergehen: «Die definitive gerichtliche Beurteilung abwarten und dann, falls nötig, neu abstimmen.»
Die NZZ findet es richtig, dass in dieser Frage die Gerichte entscheiden. «Solange auch nur geringe Zweifel an der Legitimität des Volksentscheides bestehen, bleibt der Keim für weitere Feindseligkeiten und Unruhen bis in alle Zukunft bestehen.»
Le Temps hingegen schreibt: «Moutier kann sich jahrelange Gerichtsverfahren nicht leisten, um über die Frage seiner kantonalen Zugehörigkeit endgültig zu entscheiden.» Nur eine neue faire Abstimmung könne die Stadt aus der Sackgasse bringen.
Ähnlich Le Courrier: «Wäre es nicht besser gewesen, den Bürgern eine neue Abstimmung vorzuschlagen und sie über das Schicksal ihrer Stadt definitiv entscheiden zu lassen, anstatt eines abrupten Gerichtsurteils, in dem ein einziger Täter benannt wird?»
Gespaltene Regionalzeitungen
Die Zeitungen der betroffenen Region sind deutlich gespalten. Manche begrüssen den Entscheid, andere kritisieren ihn.
«Diese Frau hat Mut», schreibt die Berner Zeitung über Stéphanie Niederhauser, die Statthalterin des Berner Juras, die den Annullierungsentscheid gefällt hat. «Sie liess sich nicht beirren von Drohungen – vor allem aus dem projurassischen Lager von Moutier –, wonach eine Annullierung in Moutier einen Aufstand auslösen werde.»
Sie habe offenbar genug juristische Anhaltspunkte für Ungereimtheiten beim Urnengang gefunden, glaubt die Zeitung. «Und nur darum ging es: Um die Frage, ob der Urnengang demokratisch korrekt abgelaufen war.»
Dem stimmt auch das pro-bernische Journal du Jura zu: Es habe Unregelmässigkeiten gegeben, der Entscheid der Regierungsstatthalterin sei somit richtig.
Laut der Berner Zeitung sind die separatistischen Gemeindebehörden quasi selber schuld, sie hätten mit ihrer Intransparenz selber zum Annullierungsentscheid beigetragen. Es folgen happige Vorwürfe: «Sie haben vor der Abstimmung die Herausgabe des Abstimmungsregisters an die Wahlbeobachter des Bundes hinausgezögert und Vorwürfe des Abstimmungstourismus vernebelt oder heruntergespielt.»
Für Bern sei die Annullierung der Abstimmung von 2017 ein trügerisches Geschenk, denn eigentlich wolle man das Juradossier ja so schnell wie möglich vom Tisch haben. «Was Bern auch tut, es erntet aus dem Jura oder gar aus der Romandie Dauerkritik für seine angebliche, längst nicht mehr belegbare Machtpolitik», beklagt sich die Berner Zeitung.
Le Quotidien jurassien moniert, es wäre besser gewesen, wenn der Bund eine andere Institution als die Regierungsstatthalterin des Berner Juras mit dem Entscheid beauftragt hätte. «Moutier ist eine Jurastadt und wird früher oder später dem Kanton Jura beitreten, die Proberner wissen, dass sie das Spiel in Moutier verloren haben.»
Auch Le Courrier hat Zweifel an der Legitimität der Regierungsstatthalterin. Diese sei Mitarbeiterin des Kantons Bern und ihre Entscheidungen somit nicht zulässig.
Interview mit Dick Marty
Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt Dick Marty steht seit 2010 der «Assemblée interjurassienne»Externer Link (Interjurassische Versammlung, AIJ) vor, deren Ziel die Aussöhnung der Kantone Bern und Jura ist. Am Tag nach der Abstimmung vom 18. Juni 2017, als 51,7% der stimmenden Bürger und Bürgerinnen von Moutier einen Beitritt zum Kanton Jura beschlossen hatten, bezeichnete Marty das als «schönes Beispiel gelebter Demokratie«. Siebzehn Monate später zeigt er sich im Interview mit swissinfo.ch enttäuscht. Er befürchtet, dass die Annullierung der Abstimmung die Wunden der Jurafrage wieder aufreisst.
Auf die Frage, ob die Abstimmung nun ein schlechtes Beispiel gelebter Demokratie sei, antwortet er: «In letzter Zeit bin ich allgemein perplex über die Nachrichten aus der Schweiz.» Es würden regelmässig Dinge aufgedeckt, die nicht funktionieren: Staatsräte, die sich von Gönnern ins Ausland einladen liessen, gewählte Politiker, die sich Spesen derart grosszügig erstatten liessen, dass es an Diebstahl grenze…»Ich denke, dass diese vorbildliche, transparente, bewundernswerte Schweiz langsam Risse bekommt», sagt Marty.
Marty versteht nicht, warum die Regierungsstatthalterin 17 Monate für den Entscheid gebraucht hat. Wenn Behördenpropaganda derart offensichtlich gewesen sei, wie die Regierungsstatthalterin behaupte, dann hätte rasch entschieden werden müssen. «Die beste Lösung wäre es, sofort wieder abzustimmen, zum Beispiel Anfang nächsten Jahres, um alle zu beruhigen.» Doch dies sei leider nicht möglich, weil die Parteien die Sache bis vor Bundesgericht ziehen würden.
Das vollständige Interview finden Sie hier.
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