Nicht-Umsetzung einer Volksinitiative wirft hohe Wellen
Statt die Zuwanderung zu begrenzen, wie es die 2014 vom Volk angenommene Masseneinwanderungs-Initiative vorsieht, hat das Parlament eine Meldepflicht von offenen Stellen an die Arbeitslosenämter beschlossen. Schweizer Medien und Experten reagieren konsterniert auf diese Missachtung des Volkswillens.
Die Schweiz hat ein System der halbdirekten Demokratie: Die Bürger können in Form einer Volksinitiative über einen Verfassungstext abstimmen, der anschliessend vom Parlament in Form eines Bundesgesetzes konkretisiert wird.
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Nun ist es bei der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) aber zu einem Eklat in diesem bewährten System gekommen: Das Parlament hat zur Umsetzung ein Gesetz ausgearbeitet, das mit dem Wortlaut der Volksinitiative kaum mehr etwas gemeinsam hat. Die Schweizer Presse ist sich daher einig: Der Volkswille wird mit dem Gesetz nicht umgesetzt.
Die Neue Zürcher Zeitung beispielsweise schreibt: Vom ursprünglichen Anliegen der Initianten, die Zuwanderung mittels Höchstzahlen und Kontingenten und unter Berücksichtigung eines Vorrangs für Inländer eigenständig steuern zu können, sei wenig bis gar nichts übrig geblieben.
Klar ist laut Medien auch das Motiv des Parlaments. So schreiben die beiden Westschweizer Zeitungen 24 heures beziehungsweise Tribune de Genève: Das Gesetz sei völlig eurokompatibel, was bedeute, dass der Bundesrat keinen Kompromiss mit der EU bezüglich Personenfreizügigkeit aushandeln müsse wie bisher angenommen.
Das Parlament meint es besser zu wissen
«Volkswille oder nicht, das ist hier die Frage», titelte 20 Minuten in Anlehnung an Shakespeare. Das Gratis-Pendlerblatt zitierte den Demokratie- und Rechtsexperten Andreas GlaserExterner Link mit den Worten, es sei das erste Mal, dass das Parlament offen sage: «Wir wissen es besser und setzen diese Volksinitiative nicht um».
Es gebe jetzt einen offenen Machtkampf zwischen dem Volk und dem Parlament, sagte Glaser. Es sei zu befürchten, dass zukünftig weniger Bürgerinnen und Bürger an die Urne gingen. «Warum soll man abstimmen, wenn das Parlament die Initiative sowieso nicht umsetzt?», fragte Glaser im Interview.
Er riet aber, weiterhin zur Urne zu gehen und auch an den Wahlen von Politikern teilzunehmen. Denn: «Es ist ein Irrglaube, davon auszugehen, alles über die direkte Demokratie steuern zu können.»
Externer Inhalt
Parlament wollte Verträge mit EU nicht gefährden
Le Temps publizierte am 12. Dezember ein Interview mit Michael Ambühl, Professor an der ETH Zürich und ehemaliger Staatssekretär, der für den Kanton Tessin ein Modell mit einer Schutzklausel zur Lösung der Grenzgängerproblematik entworfen hat. Das Modell Ambühl diente dem Parlament bei der Umsetzung der MEI als Inspiration.
Im Interview gibt Ambühl zu, dass er davon ausgegangen sei, dass eine wörtliche Umsetzung der MEI nicht möglich sei, ohne die bilateralen Verträge mit der EU zu riskieren. Er folgerte daraus, dass eine Konkretisierung der Initiative Wort für Wort unmöglich sei. Seiner Argumentation folgte nun auch das Schweizer Parlament.
Le Temps fragte Ambühl, ob er sich Gedanken darüber gemacht habe, wie sein Vorschlag bei der Bevölkerung ankomme. Daraufhin sagte Ambühl, er habe analysiert, warum die Leute für die Initiative gegen die Masseneinwanderung gestimmt hätten. Die starke Zuwanderung von Arbeitnehmern in Branchen, in denen viele Einheimische arbeitslos seien, sei tatsächlich irritierend. Daher dränge sich ein Inländervorrang auf.
Ist es Ihrer Meinung nach in Ordnung, wie das Parlament die Masseneinwanderungsinitiative umgesetzt hat? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.
Volk muss nochmals abstimmen
Die Stimmbevölkerung wird 2017 erneut zur Urne gerufen, um über die «Masseneinwanderung» zu befinden. Ein Volksbegehren mit dem Namen «Raus aus der Sackgasse» verlangt die ersatzlose Streichung des Verfassungsartikels zur MEI. Die Regierung hat bereits in Aussicht gestellt, dass sie einen Gegenvorschlag zu RASA vorlegen werde.
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