Racial Profiling-Urteil gegen die Schweiz: «Ein hoffnungsvoller Moment»
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz diese Woche wegen eines Falls einer diskriminierenden Polizeikontrolle verurteilt und fordert gesetzliche Leitlinien. Gegenüber SWI swissinfo.ch berichtet eine UNO-Expertin, wie ihr eine "Kultur des Verleugnens" begegnete, als sie Racial Profiling bei der Schweizer Polizei klar benannte.
«Es ist ein hoffnungsvoller Moment im Hinblick auf den systemischen Rassismus und die andauernde Kultur des Verleugnens, die wir beobachteten», freut sich die US-amerikanische Menschenrechtsanwältin Dominique Day über das Urteil. Die südafrikanische Juristin Catherine Namakula nennt es einen «wegweisenden Entscheid».
Worum geht es? Diese Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen «Racial Profiling» verurteilt. Es ist das erste Mal, dass der EGMR eine bestimmte Polizeikontrolle als diskriminierend einstuft.
Bereits 2022 erklärte der EGMR den Fall zum «Impact Case». Das sind EGMR-Fälle, die neue Fragen zur Anwendung der Menschenrechtskonvention aufwerfen und damit für die Entwicklung der Menschenrechte besonders bedeutend sind.
Was ist «Racial Profiling»?
Von «Racial Profiling» spricht man, wenn die Polizei gezielt Personen einzig wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert.
Dominique Day und Catherina Namakula sind zwei von fünf Mitglieder der «UN Working Group of Experts on People of African Descent». Diese UNO-Arbeitsgruppe besuchte die Schweiz 2022 auf Einladung der Schweizer Regierung.
Schon während dieser Recherchereise sei der damals hängige EGMR-Fall ein grosses Thema gewesen. Day erinnert sich: In den Gesprächen mit Menschen schwarzer Hautfarbe war während dem Besuch die einhellige Meinung, dass das Land Racial Profiling erst als Problem angehen wird, falls der EGMR gegen die Schweiz urteilt.
Bibliothekar wehrte sich und gewann am EGMR
Ein Schweizer Bibliothekar mit Wurzeln in Kenia fühlte sich diskriminiert, als er vor neun Jahren am Zürcher Hauptbahnhof von der Polizei kontrolliert worden ist. Weil die zwei Polizisten ihn als einzigen aus der Menschenmenge herauspickten, aber keine Gründe dafür nannten, weigerte er sich seinen Ausweis zu zeigen. Dafür erhielt der Bibliothekar einen Strafbefehl. Gegen diesen hat er sich bis vor dem EGMR gewehrt und nun gewonnen.
Das Urteil der EGMR-Richter:innen war einstimmig: Die Polizeikontrolle war diskriminierend und die Schweizer Gerichte hätten das überprüfen müssen.
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Annäherung des Schweizer Rechts an die europäischen Grundrechte
Bisher haben sich Schweizer Polizeioffizielle oft gegen Vorwürfe von «Racial Profiling» verwehrt. Bei Kritik ist häufig von Einzelfällen die Rede.
Immerhin hat die Stadtpolizei ZürichExterner Link nach den Vorwürfen des Bibliothekars bereits 2017 eine Neuerung eingeführt: Seither müssen Polizist:innen bei Kontrollen einen Grund nennen.
Nur Grossbritannien erfasst Ethnie bei Polizeikontrollen
Die Schweiz verfügt allerdings auch über keine Daten zur Thematik. Als einziges Land Europas erfasst Grossbritannien die ethnische Zugehörigkeit bei Polizeikontrollen. Von April 2021 bis März 2022 kamen in England und Wales 27,2 pro 1000 Menschen mit schwarzer Hautfarben in eine Polizeikontrolle.
Pro 1000 Menschen weisser Hautfarbe kamen im selben Zeitraum bloss 5,6 in eine Polizeikontrolle. Im Jahr davor war die Differenz noch grösser.
In ihrem Bericht anerkannte die UNO-Arbeitsgruppe nach ihrem Besuch 2022 den Willen der Schweizer Regierung, rassistische Diskriminierung und Ungerechtigkeiten anzugehen. Sie listete aber auch dutzende Handlungsfelder auf und sparte nicht an Kritik. Unter anderem benannte sie «Racial Profiling» als verbreitet in der Polizeiarbeit: «Racial Profiling und Polizeikontrollen junger Schwarzer Menschen erniedrigen, kriminalisieren und stigmatisieren.»
Unwissenheit bei Schweizer Polizei?
Day erinnert sich an harsche Reaktionen auf die klaren Worte. Schweizer Offizielle hätten die Methodik der UNO-Arbeitsgruppe hinterfragt und versucht die Namen anonymisierter Interviewpartner:innen zu erlangen.
Für Day habe dies das Bild der Verantwortlichen, das sie während der Recherchereise gefasst hatte, noch bestätigt. Die US-amerikanische Juristin berichtet von Unwissen und Vorurteilen. «Ein Polizeikommandant war beispielsweise der Meinung, dass ‹Hiphop-Kultur› inhärent kriminell sei.» Alle Gesprächspartner:innen, die polizeilich Verantwortung tragen, hätten den Bericht zu Rassismus in der Polizeiarbeit des UNO-Menschenrechtskommisariats nicht gekannt.
Immer wieder hätten Verantwortliche «Barrieren für die Gewährleistung von Menschenrechten» mit dem Schweizer Föderalismus erklärt.
Föderalismus als Ausrede fürs Nichtstun?
Nach Days Einschätzung handelt es sich dabei aber vor allem um einen Vorwand fürs Nichtstun. «Es gibt interkantonale, zentralisierte und nationale Initiativen bei genau jenen Institutionen, die gleichzeitig wegen dem Föderalismus als ‹unantastbar› gelten.»
Day meint die Schweizer Polizeikorps, die trotz Föderalismus in Bereichen wie der Ausbildung mit «zentralisierten Instituten zur Herstellung gemeinsamer Standards» zusammenarbeiten.
Die US-amerikanische Juristin erkennt nun nach dem Urteil ein Fenster für Veränderung und Engagement in der Schweiz.
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Die EGMR-Richter:innen sehen in ihrem Urteil vor allem die Schweizer Politik in der Verantwortung: Mit neuen rechtlichen Leitlinien für Polizist:innen könnte der Gesetzgeber Diskriminierung bei Polizeikontrollen verhindern.
Schweiz prüft Weiterzug des Urteils
Doch momentan sind in der Schweiz neue Massnahmen oder Gesetze noch kein Thema. Rechtskräftig ist das Urteil erst nach drei Monaten. Auf Anfrage beim Schweizer Bundesamt für Justiz heisst es auf detaillierte Fragen bloss allgemein, man sei mit der Analyse des Urteils beschäftigt. Gegenwärtig prüfe man zudem, «ob die Schweiz den Fall an die Grosse Kammer des EGMR weiterziehen soll».
Day sagt, Ansätze für Massnahmen zur Verhinderung von «Racial Profiling» gebe es viele. «Zum Beispiel zivile Aufsicht der Polizei, Bodycams für Polizist:innen mit öffentlich verfügbaren Aufnahmen, sowie das Erfassen und Nutzen von nach Ethnie aufgegliederten Daten.»
Die UNO-Arbeitsgruppe hat der Schweiz bereits 2022 diese Handlungsempfehlungen gemacht. «Aber für den Anfang braucht es politischen Willen und individuelles Engagement», schliesst Day.
Ihre Kollegin Namakula nennt unter anderem das Ausstellen von Quittungen für jede Polizeikontrolle als Massnahme.
Was könnten Quittungen für Polizeikontrollen bringen?
Der Bibliothekar am Zürcher Hauptbahnhof konnte nur vor Gericht gehen, weil er sich weigerte seinen Ausweis zu zeigen – und die Staatsanwaltschaft ihn dafür bestrafen wollte. Bei Polizeikontrollen, bei denen die Kontrollierten durchs Band kooperieren, wäre das gar nicht möglich.
Mit einer Quittung wäre das anders. Betroffene, die sich diskriminiert fühlen, könnten in jedem Fall den Rechtsweg einschlagen.
In Grossbritannien wird eine solche Quittung bei jeder Polizeikontrolle ausgestellt. Gemäss einer Analyse des britischen Innenministeriums sind die Unterschiede in der Rate von PolizeikontrollenExterner Link nach Ethnie von 2011 bis 2021 gesunken. Doch mit den Rückgängen seien «diese DisparitätenExterner Link» noch nicht behoben. Grossbritannien hat die Problematik bereits anerkannt.
Die Schweiz wird – wenn sie das Urteil nicht weiterzieht – wohl nicht das einzige Land bleiben, dass sich nun mit der Existenz von «Racial Profiling» in der Polizeiarbeit befassen muss.
Es handelt sich um das Urteil in einem «Impact Case», der für die generelle Menschenrechtsentwicklung als relevant gilt. Der EGMR wollte damit grundsätzliche Fragen klären. Entsprechend sollen sich nun alle Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, am Urteil orientieren.
Editiert von Mark Livingston
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