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«Fremde Richter»-Debatte im Faktencheck

Ein Richterhammer
Keystone

Eine Mehrheit des Schweizer Parlaments ist gegen die "Selbstbestimmungs-Initiative", welche die Schweizer Bundesverfassung über das Völkerrecht stellen will. Wir haben Argumente aus der bisherigen parlamentarischen Debatte auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht.

Die Selbstbestimmungs-Initiative («Schweizer Recht statt fremde Richter»Externer Link) der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sieht mehrere Änderungen der Verfassung vor: 

  • Unter anderem soll die Schweizer Verfassung neu explizit oberste Rechtsquelle der Schweiz sein und dem Völkerrecht vorgehen (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts). 
  • Bei Annahme der Initiative dürfte die Schweiz auch keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen, die der Verfassung widersprechen. 
  • Und bei einem Widerspruch müsste sie die völkerrechtlichen Verträge ändern oder kündigen. 
  • Neu wären für Gerichte nur noch jene völkerrechtlichen Verträge massgebend, die in der Schweiz dem Referendum unterstanden haben.
Pirmin Bischof
Pirmin Bischof Keystone

«Wir stehen nicht unter der Fuchtel des Völkerrechts. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, einen Vertrag, den wir eingegangen sind, zu kündigen. (…) Die Schweiz kann das jederzeit und für jeden Vertrag. Wir können, wenn wir wollen, die EMRK kündigen, schon morgen. Wir müssen die Fristen einhalten.»
Pirmin Bischof, CVP

Kontext: Zentrales Anliegen der «Selbstbestimmungsinitiative» ist, dass Schweizer Verfassungsrecht dem Völkerrecht vorgehen soll. Dies als Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach Völkerrecht generell dem Landesrecht vorgehen soll – obwohl das im Schweizer Recht nirgends so festgeschrieben ist.

Richtig oder falsch?

Das Argument von Ständerat Bischof, man könne einen völkerrechtlichen Vertrag jederzeit kündigen, war offenbar so überzeugend, dass es von mehreren Parlamentariern wiederholt wurde.

Das Argument hat bloss einen kleinen Haken: In der Absolutheit von Bischofs Formulierung stimmt es nicht. Es gibt nämlich auch unkündbare völkerrechtliche Verträge.

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Zwar sind sie relativ selten, aber es gibt sieExterner Link: Allen voran die UNO-Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle RechteExterner Link respektive über bürgerliche und politische RechteExterner Link. Diese Pakte enthalten einen ähnlichen Menschenrechtskatalog wie die EMRK. 

Ebenfalls unkündbar sind die Grenzverträge, welche die Schweiz mit ihren Nachbarstaaten abgeschlossen hat. Auch das zwingende Völkerrecht gilt als unkündbar – die Initiative tastet es folgerichtig nicht an.

Die EMRK kann hingegen gekündigt werden, diesbezüglich hat Bischof recht. Die Schweiz müsste lediglich eine sechsmonatige Frist einhalten – so steht es in der EMRKExterner Link. Auch die meisten «normalen» Verträge mit anderen Staaten enthalten Kündigungsklauseln.

Vogt
Hans-Ueli Vogt Keystone

«Kein anderer Staat auf der Welt geht davon aus, dass das internationale Recht der eigenen Verfassung vorgeht (…).» Hans-Ueli Vogt, SVP

Kontext: Die SVP zieht die Vergleiche als Argument heran, die Initiative verwirkliche bloss das, was in anderen Ländern bereits Realität seiExterner Link. Die Gegner hingegen behaupten, solche Vergleiche seien verkürzt und irreführendExterner Link.

Richtig oder falsch?

Das Bundesamt für Justiz hat mit einem Gutachten klären lassen, wie andere Länder das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht regeln. Ergebnis: Keines der untersuchten Länder bekennt sich zu einem ‹mechanisch› anzuwendenden ‹Primat des Völkerrechts›. Insofern hat Vogt recht.

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Mit einer Ausnahme: Das EU-Recht geht dem nationalen Recht der EU-Mitglieder vor. Kurt Fluri von der FDP sagte denn auch in der Debatte: «Sämtliche EU-Länder müssen sich an EU-Recht halten, auch wenn sie landesrechtlich unter Umständen anders entschieden haben.» Das stimmtExterner Link. Das EU-Recht ist aber ein Spezialfall, denn die EU ist ein StaatenverbundExterner Link – quasi ein Mittelding zwischen einem Staat und einem Staatenbund. Je mehr ein solcher Staatenverbund einem richtigen Staat gleicht, desto weniger Souveränität haben die einzelnen Länder. Das ist dann so, wie in der Schweiz das Recht des Bundes demjenigen der Kantone vorgeht.

Nadine Masshardt
Nadine Masshardt Keystone

«Dank und mit dem Druck der EMRK wurde zum Beispiel das Frauenstimmrecht eingeführt, erhalten Asbestopfer eine Entschädigung, wurde die administrative Versorgung endlich abgeschafft.» Nadine Masshardt, SP

Kontext: Die Gegner der «Selbstbestimmungsinitiative» streichen immer wieder die zentrale Bedeutung der EMKR für die Schweiz hervor, weil sie davon ausgehen, dass nach Annahme der Initiative die EMRK gekündigt werden müsste.

Frauenstimmrecht

Die Schweiz ratifizierte die EMRK als eines der letzten Länder Westeuropas. Denn: Mehrere Punkte in der Schweizer Verfassung waren nicht menschenrechtskonform. Zum Beispiel das fehlende Frauenstimmrecht, das gegen das Diskriminierungsverbot verstiess. 

Deshalb plante der Bundesrat 1968 eine Unterzeichnung der EMRK mit einem VorbehaltExterner Linkbetreffend FrauenstimmrechtExterner Link. Frauenverbände protestierten. Der Bundesrat arbeitete daraufhin eilig eine Abstimmungsvorlage aus, 1971 wurde sie von den Schweizer Männern angenommen. Nachdem einige ähnliche Hindernisse in der Verfassung aus dem Weg geräumt waren, konnte 1974 die EMRK unterzeichnet werden. 

Asbestopfer

Schadenersatzforderungen bei Körperschäden und Todesfällen verjähren in der Schweiz nach 10 Jahren. Weil Gesundheitsschäden durch Asbest oft erst Jahre oder Jahrzehnte später auftreten, ist diese vergleichsweise kurze Frist für Opfer ein Problem. Ein Opferfall ging bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR). Dieser erklärte 2014Externer Link die Verjährungsfrist angesichts des ausserordentlichen Personenschadens für unverhältnismässig.

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Das Schweizer Parlament einigte sich nach zähen Debatten endlich auf eine Verdoppelung der absoluten VerjährungsfristExterner Link. Zukünftig beträgt die Frist 20 Jahre.

Administrative Versorgung

Bis in die 1980er-Jahre inhaftierten Schweizer BehördenExterner Link nicht nur Kriminelle, sondern auch Personen, deren Lebenswandel nicht der Norm entsprach: Ledige Mütter, Randständige, Prostituierte, Alkoholiker, Drogenabhängige und andere Personen, die als «liederlich oder arbeitsscheu» eingestuft wurden. Betroffene konnten sich nicht gegen diese «administrativen EinweisungenExterner Link» wehren, es gab kein Rechtsmittel.

Erst nach Inkrafttreten der EMRK standen ihnen Verfahrensrechte zu. Niemand darf heute willkürlich eingesperrt werden, sondern nur noch unter klaren Bedingungen, zum Beispiel, wenn die Person suizidal ist oder andere gefährdet. Zudem werden die Betroffenen in Psychiatrien eingewiesen, nicht wie früher in Gefängnisse.

Matthias Samuel Jauslin
Matthias Samuel Jauslin Keystone

«Daher wäre die Menschenrechtskonvention nach Annahme der Selbstbestimmungs-Initiative für die Schweizer Gerichte nicht mehr verbindlich. Konsequenterweise müsste die Schweiz aus dem Europarat austreten.» Matthias Samuel Jauslin, FDP

Kontext: Gemäss geltender Schweizer Verfassung müssen Richter völkerrechtliche Vorgaben sowie Bundesgesetze im Einzelfall auch dann anwenden, wenn sie gegen die Schweizer Verfassung verstossen. Gemäss Initiative soll das nicht mehr für alle völkerrechtlichen Verträge gelten, sondern nur noch für jene, die dem Referendum unterstanden haben.

Richtig oder falsch?

Die EMRK hat nicht dem Referendum unterstanden. Folglich wäre sie für die Gerichte nicht mehr «massgebend», diesbezüglich hat Jauslin recht. Aber was heisst das überhaupt?

Ein konkretes Beispiel: Angenommen ein junger Schweizer fühlt sich diskriminiert, weil er als Mann in der Schweiz Militärdienst leisten muss und Frauen nicht. Er wehrt sich bis vor Bundesgericht und argumentiert, das Militärgesetz verstosse gegen das Diskriminierungsverbot der Verfassung und der EMRK. Gehen wir im Weiteren davon aus, dass das Bundesgericht und der EGMR grundsätzlich eine Geschlechterdiskriminierung durch den Militärdienst bejahen (was bisher nur zum TeilExterner Link der Fall war).

Heute hätte das Bundesgericht die Möglichkeit, das Diskriminierungsverbot der EMRK vorgehen zu lassen und das Militärgesetz nicht anzuwenden. Ergebnis: Der junge Mann müsste keinen Militärdienst leisten.

Neu müsste das Bundesgericht sagen: «Das Gesetz verstösst zwar gegen die Verfassung und die EMRK, aber beide sind für uns nicht massgebend. Wir müssen das Gesetz also anwenden und Sie müssen weiterhin Militärdienst leisten.»

Dieses Szenario bemühen die Gegner der Selbstbestimmungsinitiative: Sie argumentieren, die Initiative sei «ein Frontalangriff auf den Schutz der Menschenrechte», wie es Nadine Masshardt (SP) in der Parlamentsdebatte ausdrückte.

Ein Ausschluss eines Landes aus dem EuroparatExterner Link ist möglich, wenn der Staat die Menschenrechte oder den Grundsatz der «Vorherrschaft des Rechts»Externer Link schwer verletzt. In der Praxis ist es jedoch bisher bloss zu vorübergehenden Stimmrechtsentzügen gekommen – zum Beispiel für Russland wegen der Annexion der Krim.

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Zumeist versucht man, die Staaten auch bei Rechtsverstössen in Organisationen wie dem Europarat zu halten, damit sie weiterhin an die Regeln gebunden sind. Dass die Schweiz wegen der theoretischen Nichtmassgeblichkeit der EMRK im Einzelfall – was ja noch nicht heisst, dass die Schweiz tatsächlich Menschenrechte verletzen würde – aus dem Europarat ausgeschlossen würde, ist daher mehr als fraglich. Zumal die Gerichte immer noch auf die UNO-Pakte (die dem Referendum unterstanden) zurückgreifen könnten und es infolgedessen nicht zu einem Verstoss gegen die Menschenrechte kommen muss. In unserem Beispiel könnte das Bundesgericht die Beschränkung der Militärdienstpflicht auf Männer gestützt auf das Diskriminierungsverbot der UNO-Pakte für unzulässig erklären.

Aber wenn Jauslin findet, «konsequenterweise» müsste die Schweiz (freiwillig) austreten, dann ist das eine Meinung. Und Meinungen können weder falsch noch richtig sein. Ein freiwilliger Austritt aus dem Europarat ist jedenfalls möglich, es braucht lediglich eine formelle Erklärung gegenüber dem Generalsekretär.

Duri Campell
Duri Campell Keystone

«Wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren beobachtet, stellt man fest, es werden vermehrt Initiativen lanciert, die im Widerspruch zum Völkerrecht stehen. Dann wird lautstark der Einfluss fremden Rechts beklagt, und man hat Gründe, eine Volksinitiative zu lancieren.» Duri Campell, BDP

Kontext: Die Gegner der «Selbstbestimmungsinitiative» werfen der SVP vor, regelmässig völkerrechtswidrige Initiativen zu lancieren. Deswegen entstehe das Kollisionsproblem mit dem Völkerrecht überhaupt erst. Manche Gegner werfen der SVP sogar vor, die Kollisionen bewusst herbeizuführen und politisches Kapital darausExterner Link zu schlagen.

Richtig oder falsch?

Tatsächlich scheinen Bundesrat und Teile des Parlaments sowie Behörden davon auszugehen, dass völkerrechtswidrige Volksinitiativen zunehmend ein Problem darstellen. Der Bundesrat hat 2013 Lösungsvorschläge in die Vernehmlassung geschicktExterner Link. Und die staatspolitische Kommission des Ständerats hat aufgrund von Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Volksinitiativen geprüftExterner Link, ob ein Reformbedarf besteht.

Manche – aber nicht alle – der als problematisch eingestuften Volksinitiativen wurden von der SVP lanciert oder unterstützt: So verstösst beispielsweise die Masseneinwanderungsinitiative möglicherweise gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Das Minarettverbot ist möglicherweise nicht vereinbar mit der Religionsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot. Auch der Ausschaffungsautomatismus bei bestimmten Delikten, wie die Ausschaffungsinitiative ihn vorsah, wurde als unvereinbar mit Völkerrecht bezeichnet.

Das Phänomen ist allerdings keineswegs neu: Das Forum Aussenpolitik (foraus) schreibt in einem DiskussionspapierExterner Link, seit Ende des 19. Jahrhunderts kämen immer wieder Volksinitiativen zustande, die mit den Grundrechten oder mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz kollidierten. Foraus nennt unter anderem als Beispiele die Wiedereinführung der Todesstrafe von 1879, das Schächtverbot von 1892, die Schutzhaft für Sozialisten von 1919, das Verbot der Freimaurerei von 1934 oder die Überfremdungsinitiative von 1974. Aber auch «foraus» stellt eine Häufung von problematischen InitiativenExterner Link fest, die vom Volk in den letzten Jahren angenommen wurden.

Dass Schweizer Recht zunehmend mit internationalen Verpflichtungen kollidiert, ist nicht nur SVP-Initiativen geschuldet, sondern hat weitere Ursachen: Laut Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann von der Universität Zürich nehmen völkerrechtliche Bestimmungen in der globalisierten Welt zu, was die Wahrscheinlichkeit einer Kollision allgemein erhöht.

So ist die SVP denn auch nicht die einzige Partei, deren Initiativen mit Völkerrecht in Konflikt geraten. Als Beispiel sei hier die Initiative «1:12 – Für gerechte Löhne» der Jungsozialisten genannt, die 2009 forderte, dass der höchste von einem Unternehmen bezahlte Lohn nicht höher sein darf als das Zwölffache des tiefsten vom gleichen Unternehmen bezahlten Lohnes. Die Initiative tangierte Menschenrechte wie die Rechtsgleichheit, die Eigentumsgarantie und die Wirtschaftsfreiheit.

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Zweitens hat laut Diggelmann ein mit der Zeit «anspruchsvolleres Verständnis einzelner Menschenrechte» etwa durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen erhöht. Er nennt als Beispiel das Recht auf Privat- und FamilienlebenExterner Link, das bei Wegweisungen von Bedeutung ist. Die Folge: Immer mehr nationale Bestimmungen verstossen nach Meinung der Richter gegen Menschenrechte.

Doch wie eindeutig lässt sich ein Verstoss überhaupt feststellen, solange es noch keine Gerichtsurteile gibt? Rechtswissenschaften sind keine exakte Wissenschaft, mit der sich das eine oder andere zweifellos für alle Zeiten beweisen lässt. So mancher Rechtswissenschaftler hätte wohl ein Burkaverbot als problematisch eingestuft, weil es gegen die Religionsfreiheit verstossen könnte – doch der EGMR hat es für zulässig erklärt.

Deshalb können auch wir nicht abschliessend beurteilen, ob vermehrt völkerrechtswidrige Initiativen lanciert werden.  

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