Das Picasso-Wunder zu Basel
Was ist das, wenn der grösste Künstler des 20. Jahrhunderts, zwei seiner Gemälde und eine bunte Volksbewegung aus jungen Hippies, Bürgertum und schwerreichem Chemie-Adel aufeinandertreffen? Das Wunder von Basel. Dieses ist zugleich auch ein Wunder der direkten Demokratie: 1967, also vor 50 Jahren, sagten die Basler Stimmbürger Ja zum Ankauf zweier Picassos. Was dann geschah, tönt wie ein Märchen. Nur dass es wahr ist.
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So zauberhaft unsere Geschichte endet, so dramatisch beginnt sie – mit einem Flugzeugabsturz im peitschenden Regen. Im April 1967 zerschellt auf Zypern eine Maschine der Fluggesellschaft Globe Air im Landeanflug. 117 Passagiere und neun Besatzungsmitglieder sterben.
Die Katastrophe lässt die kleine Airline wenig später in den Konkurs schlittern. Die hohen Forderungen muss grösstenteils der Hauptaktionär der Gesellschaft übernehmen. Es ist der Basler Peter G. Staechelin, dessen Familie für ihre grosse Sammlung kunsthistorischer Schätze von Van Gogh, Monet, Cezanne, Picasso oder Manet bekannt ist.
Die bedeutendsten dieser Werke hängen im Kunstmuseum Basel. Kunsthistorische Wertanlagen, die Peter G. Staechelin durch den tragischen Notfall jetzt allerdings zu Geld machen muss.
«Von grossem kunsthistorischen Wert»
Als erstes verkauft Staechelin ein Bild von Van Gogh für 3,2 Millionen Franken. Dann sickerte durch, dass als Nächstes die Werke «Les deux frères» und «Arlequin assis» von Pablo Picasso dran sind. «Diese Bilder sind von grossem kunsthistorischen Wert», sagt Eva Reifert, Kuratorin des Bereichs 19. Jahrhundert/Klassische Moderne am Kunstmuseum Basel. Aus der Sammlung des Hauses seien sie nicht wegzudenken: «Les deux frères», 1905 gemalt, und «Arlequin assis», der 1923 entstand, bilden laut Reifert eine Art Klammer um Picassos Kubismus-Phase. Eine Kunstströmung, deren Begründer der spanische Künstler auch war.
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Als der Maler der Superlative bitten liess
Doch bevor es zur Versteigerung an den Meistbietenden kommt, zieht die damalige Kommission des Kunstmuseums die Notbremse. Und sie bringt die Staechlin-Stiftung und die Regierung des Kantons Basel-Stadt an einen Tisch.
Dort fällt ein Entscheid, wie er in der Schweiz so nur in der Kunsthochburg Basel möglich ist: Die Stiftung bietet der Stadt die zwei Kunstwerke an – zum Preis von 8,4 Millionen Franken. 6 Millionen will die Regierung aus der eigenen Kasse bezahlen, 2,4 Millionen sollen private Spender beisteuern. Und siehe da: Das Kantonsparlament zieht mit, der Kredit passiert mit nur vier Gegenstimmen.
Einer stört die Eintracht
Jetzt lodert Euphorie unter den lokalen Künstlerinnen und Künstlern und den Bürgerinnen und Bürgern auf. Um die fehlenden knapp 2,5 Mio. Franken zusammen zu bekommen, stellen sie ein Bettelfest auf die Beine.
Pablo Picasso
ist am 25. OktoberExterner Link1881Externer Link in MálagaExterner Link, SpanienExterner Link, geboren. Er war MalerExterner Link, GrafikerExterner Link und BildhauerExterner Link. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst GemäldeExterner Link, ZeichnungenExterner Link, GrafikenExterner Link, CollagenExterner Link, PlastikenExterner Link und KeramikenExterner Link, insgesamt gegen 50’000 an der Zahl.
Zu den bekanntesten Werken Picassos gehören «Les Demoiselles d’AvignonExterner Link» (1907). Das Gemälde avanciert zur Ikone der Klassischen ModerneExterner Link. Ein sehr bekanntes Motiv Picassos ist überdies die TaubeExterner Link, etwa auf dem Plakat, das er im Jahr 1949 für den Pariser WeltfriedenskongressExterner Link entwarf. Picasso starb am 8. AprilExterner Link1973Externer Link in MouginsExterner Link, FrankreichExterner Link.
Einem jedoch stinkt diese Euphorie für zwei Picassos gewaltig: Alfred Lauper, ein Garagist, hat als Kleinaktionär beim Konkurs der Globe Air viel Geld verloren und sieht keinerlei Notwendigkeit für Investitionen der öffentlichen Hand in hohe Kunst. Lauper ergreift das Referendum gegen den Parlamentsentscheid und bringt innert Kürze die nötigen Unterschriften zusammen.
Nun spaltet sich das Volk. Fotojournalist Kurt Wyss, heute 81-jährig und damals bei der Basler Nationalzeitung tätig, erinnert sich an die Kluft, die auch zwischen Alt und Jung aufriss. «Wir jungen Redaktoren waren absolut überzeugt, dass die Stadt die Bilder kaufen muss. Die älteren auf der Redaktion sagten: Ihr spinnt. Für dieses Geld baut man zwei Altenheime.»
«All you need is Pablo»
Die Leserbriefspalten füllen sich. Gegner und Befürworter, so scheint es, halten sich die Waage. Überall in der Stadt liest man nun die Slogans «I like Pablo» oder «All you need is Pablo» – in Anlehnung an den Beatles-Hit «All you need is Love», der im selben Jahr zum Soundtrack der Hippie-Bewegung wird.
Das kulturelle Feuer am Rhein springt auf die übrige Deutschschweiz über: Der Kanton St. Gallen sichert eine Spende zu, der Nachbarkanton Baselland überweist – ohne angefragt zu werden – 80’000 Franken, die Basler Gemeinde Binningen 2000 Franken.
Zusammen mit grossen Spenden der lokalen Pharmaindustrie und der teils superreichen Basler Oberschicht sind am Ende 2,5 Millionen beisammen – 100’000 Franken mehr als nötig.
Whiskey bei Pablo
Doch in trockenen Tüchern ist noch nichts. Die bunte Allianz blickt mit Bangen der Abstimmung entgegen. Doch das Zittern war vergebens: Am 17. Dezember 1967 stimmt die Basler Stimmbevölkerung mit grossem Mehr dem Picasso-Kredit zu. In den Gassen der Stadt bricht Jubel aus. Die Jugend, die Künstlerinnen und Künstler, viele Bürgerinnen und Bürger feiern. Ebenso die jungen Journalisten der Nationalzeitung.
Kurt Wyss erinnert sich: «Im Siegesrausch schlagen wir vor, dass wir Pablo Picasso zum Interview in Südfrankreich treffen.» Der Kulturredaktor winkt ab. Picasso habe seit zehn Jahren keine Interviewanfragen mehr akzeptiert. Dennoch fliegen Kurt Wyss und Journalistenkollege Bernhard Scherz noch am gleichen Tag nach Südfrankreich, wo der ursprünglich spanische Künstler seit mehreren Jahren lebt. Im Gepäck haben die beiden eine Dokumentation der Ereignisse in ihrer Stadt und einen flammenden Empfehlungsbrief.
Noch am selben Abend klopfen Wyss und Scherz an Picassos Türe, übergeben den Empfehlungsbrief und Teile der Dokumentation an einen Hausangestellten. Tags darauf machten sich die beiden jungen Männer zu Fuss auf dem Weg zum Haus des Jahrhundert-Genies, als ihnen eine riesige Limousine entgegenkommt. Die Scheibe wird heruntergelassen, heraus schaut Jacqueline Picasso, Pablo Picassos Ehefrau. Sie fragt: «Sind Sie die Herren aus Basel? Kommen sie gegen 17 Uhr. Auf Sie wartet eine grosse Überraschung.»
Aus einem Picasso mach zwei
Nervös treffen die beiden Kollegen schon weit vor der vereinbarten Zeit ein und werden in Pablo Picassos Atelier geführt. Dort treffen sie aber nicht auf den Künstler, sondern auf einen Mann, dessen Kinnlade runterfällt, als er die unerwarteten Besucher sieht: Franz Meyer, Direktor des Kunstmuseum Basel. Stolz verkündet Meyer, dass ihm Picasso ein neues Gemälde als Geschenk für Basel versprochen habe. Und er dürfe sich hier und jetzt eines aussuchen.
«Meyer war aber ein Schlitzohr», sagt Kurt Wyss. «Er überlegte zwischen zwei Gemälden lange hin und her. Sagte, dass sie doch irgendwie zusammengehören. Jacqueline Picasso stimmt zu.» Am Ende schenkt Pablo Picasso den Baslern beide Bilder. Und noch mehr. Bereits zuvor hat der Künstler entschieden, dem Kunstmuseum ein Bild von 1906 aus der Periode Rose zu überlassen. Und als Zugabe der Zugabe noch eine Entwurfsskizze von «Les Demoiselles d’Avignon» – von jener Ikone der Kunstgeschichte also, die den Kubismus einläutete.
Die spontane, grosszügige Reaktion zeigt, wie ergriffen der damals 86-jährige Picasso vom Basler Volksentscheid war. «Er war in Hochform», sagt Kurt Wyss. Als Meyer seine beiden Bilder ergattert hat, führt Picasso sie in den Salon, er wolle Tee trinken. «Uns aber schenkte er Whiskey aus.» Die Männerrunde plaudert – «es war wunderbar.»
«Ich schenke die Bilder der Basler Jugend»
Und irgendwann, als man wieder auf die Bilder zu sprechen kommt, sagt Pablo Picasso: «Diese Bilder schenke ich nicht dem Staatsfunktionär» – womit er Franz Meyer meinte, wie Kurt Wyss sagt. Picasso führte an: «Ich schenke sie der Basler Jugend.» Und schliesst mit diesen Worten die jungen Journalisten Kurt Wyss und Bernhard Scherz in seine langen Arme. «Das war ein sehr bewegender Moment», sagt Kurt Wyss und fügt mit einem Augenzwinkern an: «Seither wasche ich mich nicht mehr.»
Das Picasso-Wunder von Basel war nicht nur ein Sieg für die Kunst. Es war auch Reklame für die direkte Demokratie, wie die Berichterstattung darüber in den grossen internationalen Medien wie der New York Times und dem deutschen Magazin Der Spiegel zeigt.
Leonhard Burckhardt, sozialdemokratisches Mitglied im Basler Kantonsparlament und Professor für Geschichte an der Universität Basel, war damals 14 Jahre alt. «Wie für viele meiner Generation war dieses Ereignis auch für mich ein Markstein. Sehr plastisch erlebte man, wie ein Referendum als ein Kernbestandteil einer Demokratie funktioniert.»
Ob so etwas heute wieder möglich wäre, darauf hat Leonhard Burckhardt keine eindeutige Antwort. «Das ist hochspekulativ. Fakt ist aber, dass sich noch heute ein grosser Teil der Basler Bevölkerung mit dem Kunstmuseum identifiziert. Und dass man hier die Kunst noch immer liebt.»
Das 50-Jahre-Jubiläum des Erfolgs dieser bunten Volksbewegung begeht das Kunstmuseum Basel standesgemäss: Ab Januar 2018 feiert das renommierte Haus mit einer Ausstellung die ungewöhnlichen Verknüpfungen, die dieses «Wunder von Basel» erst möglich machten.
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