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Schaffhauser Bürgern liegt das Abstimmen im Blut

Viel Stimmkraft und Naturgewalt pur: Schaffhausen sorgt im Sommer 2016 auch anderweitig für Aufsehen - mit den gewaltigsten Wassermassen seit langem, die den Rheinfall herunter donnern. Keystone

Schaffhausen ist Schweizer Meister in der direkten Demokratie, sprich Stimmbeteiligung. Was ist es, das die Menschen im Nordostschweizer Kanton zur Partizipation antreibt?

Nach Abstimmungen und Wahlen schaut die ganze Schweiz jeweils neidisch gen Nordost. Dort sitzt nämlich der kleine Kanton Schaffhausen, der in der Paradedisziplin der direkten Demokratie immer wieder die Goldmedaille holt: Um die 65% der stimmberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner nehmen in diesem Landeszipfel jeweils an Abstimmungen und Wahlen teil. Dies im krassen Gegensatz zur Restschweiz, wo die Stimmbeteiligung seit Jahrzehnten auf bedenklich tiefen 45% dümpelt.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Das ist die Story: Die Schaffhauserinnen und Schaffhauser sind stolze Schweizermeister im Abstimmen – nicht nur wegen der Stimmpflicht.

Bedenklich, weil Minderheiten so Entscheidungen für die Mehrheit treffen können – und somit die direkte Demokratie untergraben wird.

Warum ticken die Schaffhauserinnen und Schaffhauser so anders als der Rest der Schweiz? Auf den ersten Blick vor allem aus einem Grund: Im nördlichsten Kanton der Schweiz gilt Stimmpflicht. Und das schon seit 140 Jahren. Wer hier nicht wählen oder abstimmen geht, bezahlt eine Busse. Bis in die 1970er-Jahre belief sie sich auf 1 Franken, dann wurde sie auf 3 Franken angehoben und seit einem Jahr beträgt sie teuerungsangepasst 6 Franken. Das ist eine Busse von immer noch eher symbolischem Charakter. Wer diese nicht zahlen will, kann die unausgefüllten Stimmunterlagen überdies bis zu drei Tage nach der Abstimmung retournieren und so der Strafe entgehen.

«Jeder sollte stolz darauf sein»

Von einem niederdrückenden Zwang, sich politisch zu beteiligen, kann in Schaffhausen also nicht die Rede sein. Was ist es also noch, das die Menschen hier zur Partizipation antreibt? Und hat sich hier so etwas wie ein stolzes politisches Selbstverständnis herausgebildet? Thomas Minder, parteiloser Vertreter des Kantons im Ständerat, der kleinen Kammer des Schweizer Parlaments, sagt: «Ja, wir sind in Schaffhausen sehr stolz auf unsere hohe Stimmbeteiligung.»

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Genauso sehen es die 83-jährige Dame und ihre 79-jährige Freundin, die beide mit schön drapierten Frisuren auf einem Bänkchen in der Altstadt sitzen. Die ältere der beiden sagt: «Ja, ich bin stolz. Jeder und jede in Schaffhausen sollte stolz sein darauf.» Ihre Kollegin nickt.

Ein paar Meter weiter in einem Einrichtungsgeschäft streicht sich die 51-jährige Besitzerin ihre Fransen aus der Stirn und sagt: «Stolz? Nein, das kann ich nicht sagen. Ich glaube, bei den meisten ist es der Zwang, der sie an die Urnen treibt.» Bei ihr selber hingegen sei es nie so sehr die Busse gewesen, die sie zum Abstimmen an die Urne brachte. Sondern, dass in ihrer Familie schon immer abgestimmt worden sei. «Das war bei uns normal.»

Ähnlich ist das auch bei dem 17-jährigen Schreinerlehrling, der an der Bushaltestelle eben eine Zigarette dreht. Auch bei ihm zuhause wird am Küchentisch oft politisiert. Nächstes Jahr wird er 18 Jahre alt und damit stimmberechtigt. «Ich freue mich, wenn ich abstimmen kann. Warum? Dann kann ich endlich mitreden.» Obwohl er auch einwirft, dass er sicher auch mal eine Abstimmung auslassen werde.

So wie der Mann mit Schnauz, der ein Sandwich isst: «Nein, ich gehe nicht immer abstimmen oder wählen. Abstimmen ist mühsam, wir müssen schlicht zu oft an die Urne.» Nach kurzem Nachdenken fügt der 45-jährige Lagerist aber an, dass die hohe Beteiligung ja schon gute Sache sei, auf die man auch stolz sein könne. «Das gehört halt zu uns.»

«Die Teilnahme ist quasi eingeimpft»

Ermüdungserscheinungen, an den zahlreichen Abstimmungen teilzunehmen, gibt es also auch im Stimmrekordkanton Schaffhausen. Abstimmungsmüdigkeit zählt laut einer Studie der Universität Zürich von 2012 zu den zentralsten Gründen, weshalb die gesamtschweizerische Stimmbeteiligung im internationalen Vergleich besonders tief liegt.

Aus der Stimmpflicht haben die Menschen in Schaffhausen eine stolze Bürgerpflicht entwickelt, sagt Vize-Staatsschreiber Christian Ritzmann. swissinfo.ch

Ebenso die mangelnde Generationenweitergabe: Wenn Eltern die politische Teilnahme vernachlässigen oder ablehnen, tun es ihnen die Kinder eher gleich und geben diese Haltung wiederum auch an ihre Kinder weiter. Ein Mechanismus, der in Schaffhausen gegenteilig spielt und damit ein wesentlicher Grund ist für die hohe Stimmbeteiligung.

Davon ist auch Christian Ritzmann überzeugt, stellvertretender Staatsschreiber von Schaffhausen. «Über die Generationen hinweg hat sich aus der Stimmverpflichtung eine echte Bürgerpflicht entwickelt. Die Teilnahme am politischen Prozess ist quasi eingeimpft.» Noch etwas plakativer formuliert es der ehemalige Schaffhauser Nationalrat (grosse Parlamentskammer) Hans-Jürg Fehr: «Die hohe Stimmbeteiligung wurde über die Jahre zum Identitätsmerkmal von Schaffhausen, zum Wahrzeichen – wie der Munot oder der Rheinfall.»

Verpflichtungsgefühl durch Nähe

Dass dies möglich wurde, hängt für Christian Ritzmann vor allem mit der Überschaubarkeit des Kantons zusammen: Hier können die politischen Vertreter dem Volk näher kommen als in anderen, weitläufigeren Kantonen. In Schaffhausen mit seinen 80’000 Einwohnern trifft man die politischen Entscheidungsträger auf der Strasse, sitzt neben ihnen im Bus oder im Restaurant. «Hier besteht eine nahe Verbindung und dadurch wohl auch ein Verpflichtungsgefühl, sich politisch zu beteiligen», so Ritzmann.

Aber weiter als bis zur Urne scheint dieses Verpflichtungsgefühl dann doch nicht zu reichen. «Wie in vielen Gemeinden in der Schweiz finden wir auf kommunaler Ebene kaum politischen Nachwuchs», beklagt Ständerat Thomas Minder. Und auch ex-Nationalrat Hans-Jürg Fehr merkt an: «Abgesehen von der hohen Stimmbeteiligung spüre ich kein grösseres politisches Engagement als anderswo.»

Diskussionskultur

Dem pflichtet auch Robin Blanck bei, Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten, der einzigen Tageszeitung im kleinen Kanton. Er fügt ein Aber an. «Ich glaube, dass in diesem Kanton zumindest intensiver über Politik diskutiert wird.» Zwei Mal pro Woche drucke man auf der prominenten Seite 2 der Zeitung ausschliesslich Leserbriefe ab. «Bei einem politisch heissen Thema gibt es gut und gerne an die hundert Zuschriften», sagt Blanck.

Auch die beiden älteren Damen mit den schön drapierten Frisuren auf der Parkbank nehmen an diesen Diskussionen teil – untereinander, in Leserbriefen, und auch direkt mit den Politikern. «Wenn ich mich über eine politische Entscheidung aufrege, setze ich mich an den Computer», sagt die 79-Jährige. «Manchmal schicke ich auch grad einen Brief direkt an den Regierungsrat oder auch an den Bundesrat. Vielleicht bringt das nichts. Aber ich finde, man muss sagen, was man denkt. Wenn wir das schon können!»

Wie kann man Bürgerinnen und Bürger an die Urnen holen? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.

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