Fusion von 13 Gemeinden zu «Neuem Bellinzona»
Die Tessiner Kantonshauptstadt Bellinzona zählt gerade mal 18'000 Einwohner. Im April wächst sie dank einer Fusion mit 12 Nachbargemeinden zu einem urbanen Zentrum mit 43'000 Einwohnern. Das Projekt im Bellinzonese ist Teil eines umfassenden kantonalen Gemeindefusionsplans. Im Vordergrund stehen die Partizipation der Bürger und die Gemeindeautonomie als Grundpfeiler der direkten Demokratie und des Schweizerischen Föderalismus.
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Die Fusion von 13 Gemeinden im Bellinzonese ist das grösste Projekt dieser Art in der ganzen Schweiz. Für das Tessin, namentlich den nördlichen Teil (SopraceneriExterner Link), stellt diese Fusion eine Zäsur dar. Denn traditionell hatten hier Gemeindefusionen wenige Chancen; im Bellinzonese und Locarnese wollten die Gemeinden stets autonom bleiben.
Nun die Kehrtwende, zumindest im Bellinzonese. «Diese Fusion katapultiert das ganze Tessin ins 21. Jahrhundert», sagte der kantonale Justiz- und Innendirektor Norman Gobbi, als er am 18. Oktober 2015 das Ergebnis der Konsultativabstimmung kommentierte. Bei dieser Abstimmung sagten 13 von 17 Gemeinden Ja zum Fusions-Projekt.
Abstimmungsresultat in den 17 Gemeinden
Das Projekt im Bellinzonese ist Teil einer kantonsweiten Gemeindefusionsstrategie, die Ende der 1990er-Jahre aufgegleist wurde. Es gab etliche Studien, Berichte und Vernehmlassungen. Auch finanzielle Anreize spielen eine Rolle, denn der Kanton fördert die Fusionen mit Anschubsubventionen. An erster Stelle steht aber der Willen der lokalen Behörden und Einwohner, diese Fusionen umzusetzen.
Elio Genazzi, Leiter der Tessiner Gemeindeaufsicht, beschreibt die Entwicklung: «Bis vor kurzem gab es 247 Gemeinden im Tessin, fast so viele wie zu Napoleons Zeiten, das heisst im Jahr 1803, als der Kanton Tessin gegründet wurde. Die Zahl der Gemeinden war somit fast unverändert geblieben, obwohl sich die Gewohnheiten und Bedürfnisse der Einwohner grundlegend verändert haben.»
Die grossen Unterschiede zwischen den jeweiligen Gemeinden und ihrer Funktionsfähigkeit hätten dann dazu geführt, dass gewisse Aufgaben, die typischerweise von den Gemeinden ausgeführt werden, zunehmend beim Kanton zentralisiert wurden. Kleine Gemeinden waren laut Genazzi schlicht und einfach nicht mehr in der Lage, diese Aufgaben zu erfüllen.
Dies führte letztlich dazu, dass das Drei-Säulen-System der föderalen Schweiz mit einer Aufgabenteilung zwischen Gemeinde, Kanton und Bund aus dem Lot geriet. «Die Fusionspolitik zielt denn auch darauf ab, die Gemeinden und damit den Föderalismus wieder zu stärken», hält Genazzi fest. Mittlerweile zählt das Tessin nur noch 135 Gemeinden.
Gewappnet für die Zukunft
Im Falle des Neuen Bellinzona geht es gemäss dem amtierenden Stadtpräsidenten Mario Branda auch darum, eine grosse Gemeinde zu schaffen, «welche über die technischen und finanziellen Ressourcen verfügt, um eine eigene lokale Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturpolitik zu verfolgen, sowie eine den heutigen Standards angemessenen Raumplanung.»
Die Tessiner Kantonshauptstadt will in diesem Sinne auch für die Entwicklungen gewappnet sein, die sich aus dem Gotthard-Basistunnel ergeben können, der im vergangenen Dezember in Betrieb genommen wurde. Die schnellere Nord-Süd-Verbindung wird die Mobilität erhöhen und – gemäss Studien – vor allem zu einem Wachstum von Bellinzona führen, dem so genannten «Tor zum Tessin» als erstem Halt im Süden nach dem Gotthard-Basistunnel.
Ein partizipativer Prozess
Branda ist überzeugt, dass es ein geeintes Bellinzona braucht, um die Herausforderungen der Zukunft anzugehen. Deshalb ist der partizipative Prozess in diesem Fusionsprojekt so wichtig. «Denn dieser partizipative Effekt schafft den nötigen Rückhalt. Die Volksbefragung ist genau aus diesem Grund unerlässlich für Gemeindefusionen.»
Mit 68 Prozent Ja-Stimmen in den 13 Gemeinden, die sich nun an der Fusion beteiligen, ist die Zustimmung zum Projekt «über unsere Erwartungen hinausgegangen», meint Stadtpräsident Branda. Andererseits wird der Volkswillen der vier Gemeinden respektiert, welche die Fusion abgelehnt haben.
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Respekt für den Volkswillen
Zwangsfusion möglich
Im Falle der Fusion in Bellinzona wurde so dem Abstimmungsverhalten in allen Gemeinden Rechnung getragen. Doch dies ist nicht immer so. Das Gesetz sieht auch die Möglichkeit einer Zwangsfusion vor.
Diese ist zwar nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, wird aber gleichwohl von ihren Gegnern deutlich kritisiert. Denn sie sehen in der Zwangsfusion einen Verstoss gegen die garantierte Gemeindeautonomie.
«Doch Autonomie ist eben nicht nur ein juristischer Begriff», hält Elio Genazzi fest. Autonomie gebe es nur, wenn eine Gemeinde auch selbständig in der Lage sei, für die Bedürfnisse ihrer Bürger aufzukommen. Instrumente wie der interkommunale Finanzausgleich oder die Bildung von Gemeindekonsortien zeige auf, dass viele Gemeinden eben nicht selbständig seien, um bestimmte Dienstleistungen für ihre Bürger zu erbringen.
Zwangsfusion ist möglich
Das Tessiner Kantonalgesetz zur Fusion und Trennung von Gemeinden sieht vor, dass das Parlament auch Zwangsfusionen vornehmen kann, das heisst auch für den Fall, dass betroffene Gemeinden in einer Konsultativabstimmung gegen eine solche Fusion gestimmt haben. In folgenden Fällen ist dies möglich:
1) Wenn die Finanzlage einer Gemeinde so schlecht ist, dass es nicht mehr möglich ist, die laufende Rechnung ausgeglichen abzuschliessen.
2) Wenn die Teilnahme einer Gemeinde an einem Fusionsprojekt aus geografischen, planerischen, territorialen, funktionellen oder wirtschaftlichen Gründen notwendig ist.
3) Wenn es einer Gemeinde über längere Zeit verunmöglicht ist, die eigenen Organe zu bestellen und eine funktionsfähige Verwaltung zu garantieren, oder wenn gewählte Gemeindeorgane ihren gesetzlichen Aufgaben nicht nachkommen.
Kritische Stimmen
Ganz anderer Ansicht ist die Tessiner Vereinigung für Gemeindeautonomie (ATAC), welche auch eine Beschwerde vor Bundesgericht von 81 Bürgern gegen das Fusionsprojekt in Bellinzona unterstützt hat. Der Rekurs wurde vom höchsten Gericht zurückgewiesen.
ATAC-Präsident Alberto Poli ist überzeugt, dass der aktuelle Fusionsprozess bei den Gemeinden einseitig zum Vorteil der urbanen Zentren geht und umgekehrt die Peripherie benachteiligt.
«Viele Bürger in Randgebieten, die mit grossem Mehr für Fusionen gestimmt haben, waren häufig nach der vollzogenen Fusion unzufrieden und haben ihr Votum bereut», behauptet Poli.
Doch der Erfolg bei der Unterschriftensammlung für zwei Volksinitiativen im Jahr 2014, welche im Bellinzonese und Locarnese Gemeindefusionen in grossem Stil forderten, weist in eine andere Richtung. Viele Bürger wünschen sich ganz offenbar Fusionen.
Eine der beiden damals eingereichten Volksinitiativen wurde bereits vom höchsten Schweizer Gericht für ungültig erklärt, weil darin ein Verstoss gegen die europäische Charta für kommunale SelbstverwaltungExterner Link gesehen wird. Gemäss dieser Charta müssen zuerst die betroffenen Gemeinden angehört werden. Es kann also nicht sein, dass die Stimmbürger eines Kantons in einer Volksabstimmung «von oben» die Gemeindefusion in einer bestimmten Region verordnen.
Ein Impuls für den ganzen Kanton
Das Neue Bellinzona, das nun aus der Fusion von 13 Gemeinden entsteht, ähnelt im Übrigen weitgehend der (nicht zulässigen) Kantonsinitiative. Deren Initiator, Giorgio Ghiringhelli, ist überzeugt, dass die vom ihm lancierte Volksinitiative «psychologisch den Fusionsprozess im Bellinzonese beschleunigt hat.»
Und diese Fusion im Bellinzonese könnte ihrerseits einen Impuls für andere Regionen darstellen, in denen nach wie vor eine Kirchturmpolitik vorherrscht. Vielleicht wird eines Tages sogar das Ziel des kantonalen Fusionsplans Realität: Dieser sieht vor, dass es im Tessin dereinst nur noch 20 Gemeinden gibt.
Fast 1000 Gemeinden verschwunden
In der Schweiz sind im letzten Jahr weitere 39 Gemeinden verschwunden. Am 1. Januar 2017 zählte das Land noch 2255 Gemeinden. Damit setzt sich ein langanhaltender allgemeiner Trend weiter fort. 1860 hatte die Schweiz noch aus über 3200 Gemeinden bestanden.
Die Abnahme entsteht durch Fusion mit anderen Gemeinden. Die häufigsten Gründe dafür sind: Mangel an Freiwilligen für die Übernahme von Ämtern, finanzielle Notlage und Delegation komplexer Aufgaben (zum Beispiel Verkehrsplanung) an höhere Stellen.
Die Gemeinden bilden das Rückgrat der Schweizer Demokratie, ist ihnen doch eine weitreichende Autonomie garantiert. Dies aufgrund des Prinzips des Föderalismus, der die Macht in der Schweiz auf die drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden aufteilt.
Haben Gemeindefusionen mehr Vor- oder mehr Nachteile? Schreiben Sie uns Ihre Meinung. Wir freuen uns über Ihre Erfahrungsberichte und Kommentare.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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