Landsgemeinde Kloten – wo Grenzen der Demokratie gesprengt werden
Über 31 Millionen Passagiere im letzten Jahr: Der Flughafen Zürich Kloten ist das Tor der Schweiz zur Welt. Politisch hat die Stadt Kloten als grösste internationale Verkehrsdrehscheibe des Landes zur Urform der direkten Demokratie zurückgefunden: zur Landsgemeinde. Wie sie diese interpretiert, ist wegweisend.
Ein Passagierflieger zieht an diesem Sommersamstag über den Versammlungsplatz in der Flughafengemeinde Kloten. So tief, man glaubt, ihn mit den Händen greifen zu können. Der Platz, auf dem sich um die 700 Menschen sammeln, ist mit Natursteinplatten ausgelegt, umschlossen von in die Höhe strebenden Häusern.
Sechs Jahre, 6600 Beiträge: Das ist die SWI swissinfo.ch-Schatzkammer, die wir seit 66 Monaten mit Inhalten zu unserem SWI-Schwerpunkt Demokratie füllen. In diesem Sommer präsentieren wir Ihnen daraus zehn Evergreens. Denn Demokratie zählt gemeinsam mit der Klimafrage und der Rentensicherung zu den ganz grossen globalen Gesprächsthemen unserer Zeit.
Eine Bühne steht da, dort sitzt eine lokale Big Band und spielt Swing. An einem Stand werden spanische Süssspeisen verkauft, an einem anderen gibt es Crêpes. Die Einwohnerinnen und Einwohner kommen mit Hunden an der Leine und Kindern an der Hand – Volksfestcharakter.
In Kloten ist Landsgemeinde. Keine politisch-offizielle zwar. Aber gerade deswegen entspricht sie dem Grundgedanken der direkten Demokratie umso mehr. Denn das Hauptziel der Organisatoren lautet: Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sonst in der Schweiz nicht einbezogen werden.
«An dieser Landsgemeinde dürfen alle mitmachen», sagt Daniel Neukom, Präsident des Vereins Landsgemeinde KlotenExterner Link. Also nicht nur Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die mindestens 18 Jahre alt sind, sondern Stadtbewohnerinnen und -bewohner aller Nationen und jeden Alters.
Eigentlich eine ländliche Veranstaltung
Die Landsgemeinde, die älteste Form der Demokratie, ist in der Schweiz vom Aussterben bedroht (siehe Box unten). Kloten revitalisiert sie – als farbiges Fest der diversen, globalen Gesellschaft Schweiz.
«Landsgemeinde 2.0»
Mit ihrer modernen Form der Landsgemeinde setzt die Flughafenstadt Kloten Zeichen. Der informelle Rahmen ermöglicht Einschluss und Partizipation von Gruppen, die sich von der formellen Politik weniger abholen lassen oder davon ausgeschlossen sind.
Dies betrifft insbesondere Frauen, Geringverdienende, Junge unter 18 Jahren sowie Ausländerinnen und Ausländer. Die letzten beiden Gruppen besitzen in der Schweiz keine politischen Rechte.
Lokaldemokratie eignet sich für neue Formen der Beteiligung, sprich zur Modernisierung der direkten Demokratie, am besten. Denn auf Ebene von Bund und Kantonen ist die Ausdehnung der politischen Rechte auf unter 18-Jährige sowie Ausländerinnen und Ausländer politisch aussichtslos.
Vor 150 Jahren wurde die Landsgemeinde in der Schweiz noch in mehreren Kantonen zelebriert. Inzwischen nur noch in zwei: Appenzell Innerrhoden und Glarus.
Die Landsgemeinde ist dort und auch im Ursprung eine ländliche Veranstaltung, über die bisweilen der Güllegeruch von den nahen Feldern zieht. Nach der Landsgemeinde sitzt man dort in alten Beizen um Holztische zusammen, raucht krumme Stumpen, trinkt ein Schnäpschen, irgendwo wird spontan gejodelt, und einer biegt ein Schwyzerörgeli über seinen Oberschenkel.
In Appenzell säumen schmucke alte Häuser den Platz, wo sich die Menschen treffen, um gemeinsam und öffentlich politische Entscheide zu fällen.
Antwort auf die Globalisierung
Kloten interpretiert die Landsgemeinde nun neu: Sie soll eine Antwort auf eine Frage sein auf die stark von der Globalisierung beeinflusste Stadtentwicklung.
Im informellen Format der Landsgemeinde erweitert Kloten auch die politischen Rechte. Insbesondere die Jugendlichen und die Ausländerinnen und Ausländer – jene zwei Gruppen, die nicht abstimmen und wählen dürfen, sind hier willkommen. Internationalität ist hier Alltag. Die Einwohner gehören 120 Nationen an.
«Die meisten sind zum Arbeiten hier. Sie bleiben ein paar Jahre und ziehen dann wieder weiter», sagt Daniel Neukom. Dass so eine Basis für ein Wir-Gefühl entstehen könne, sei sehr schwierig. Die Landsgemeinde ist ein Versuch, den Zusammenhalt zu stärken.
Ein formelles staatliches Instrument ist diese Landsgemeinde also nicht. Aber sie hat dennoch die Macht, Gelder zu verteilen. Diesmal sind es 30’000 Franken, das sind 10’000 Franken mehr als in den Jahren zuvor.
Fliegerstadt Kloten
31 Millionen Reisende, 19’647 Einwohnerinnen und Einwohner: Das ist die Flughafenstadt Kloten bei Zürich (Zahlen von 2018).
Stimmberechtigte: Knapp 11’000.
Anteil Ausländerinnen und Ausländer: 32,8% (Schweiz: gut 25%).
Arbeitstätige: über 36’500 Personen, davon rund 30’000 am Flughafen.
Neben den Geldern der Stadt Kloten kommt noch das Preisgeld des DemokratiepreisesExterner Link der Neuen Helvetischen GesellschaftExterner Link hinzu. Diese hatte Kloten im letzten Jahr für das Engagement der Fliegerstadt für die Landsgemeinde ausgezeichnet.
Die Ausgeschlossenen sind dabei
Die Teilnehmenden stimmen über zahlreiche Ideen ab. Einige davon hätten es in einem klassischen politischen Verfahren schwer, Gehör zu finden. Denn die entsprechenden Interessensgruppen sind dort schlicht nicht vertreten. Auf dem Tisch liegt ein spielerischer Deutsch-Kurs oder die Durchführung eines Jugendfestivals. Der Tischtennisclub setzt sich für mehr Tischtennistische im öffentlichen Raum ein.
Der Schüler Salvador plädiert für mehrere, über die Stadt verteilte Veloflick-Stationen. Ein Kollektiv setzt sich für die Erweiterung des Entdecker-Spielplatzes ein.
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Die Gemeindeversammlung
Externer Link«Eine spannende Sache»
Abgestimmt wird an dieser Landsgemeinde nicht wie sonst üblich per Handerheben. Sondern jedem Projekt wird ein grosser Ballon zugeteilt, unter dem sich die Unterstützerinnen und Unterstützer sammeln. So kristallisieren sich – für alle gut sichtbar – vier Siegerprojekte klar heraus. Welches davon den Hauptbetrag von 10’000 Franken erhält, darüber wird schriftlich abgestimmt.
Zu den Klängen der Big Band geben die Klotenerinnen und Klotener ihre Stimmen ab. Auch der 14-jährige Jan, einer der Promotoren des Jugendfestivals. «Es ist das erste Mal, dass ich in Kontakt mit der Politik kam, eine spannende Sache», sagt der Teenager.
Das Jugendfestival erringt den ersten Platz. Die 10’000 Franken gehen an das es organisierende Schülerkomitee, dem er angehört.
Sie haben heute die erste Erfahrung gesammelt, dass in einer direkten Demokratie jede Stimme zählt.
Die Landsgemeinde
Sie ist eine der ältesten und einfachsten Formen der Schweizer Direktdemokratie. Alle Wahl- und Stimmfähigen eines Kantons versammeln sich einmal jährlich unter freiem Himmel zur Wahl der Regierung (Appenzell Innerrhoden) und zur Verfassungs- und Gesetzgebung oder Festsetzung des Steuerfusses (Appenzell Innerrhoden und Glarus). Sie tun dies durch Aufheben der Hand oder des farbigen Stimmrechtsausweises.
Diese beiden Kantone sind die letzten, die noch die Landsgemeinde kennen.
Kritiker bemängeln namentlich, dass bei dieser Form das demokratische Grundrecht auf geheime Stimmabgabe nicht gewährleistet ist.
Über die Glarner Landsgemeinde gibt es das Buch «Ds Wort isch frii»Externer Link. Autor ist Lukas Leuzinger, der auch für #DearDemocracy schreibt.
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