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Als die Schweiz die Demokratie-Weltspitze innehatte

Mit der zweiten Bundesverfassung von 1874 katapultierte sich die Schweiz vorübergehend an die Spitze der weltweiten Demokratie-Entwicklung. Kein Kanton war so klar für die Totalrevision des Grundrechts wie Schaffhausen.

Das Jahr 1874 markiert für die Schweizer Demokratie einen Meilenstein: Es brachte die Geburt der zweiten Bundesverfassung. Und diese hatte zahlreiche Verbesserungen in sich – sie behob praktisch alle Defizite der ersten Verfassung.

Viele dieser Fortschritte wären ohne die sogenannte Demokratische Bewegung nicht möglich gewesen. Diese war dezentral entstanden, aufgrund umstrittener kantonaler Parlamentsentscheidungen. In Basel-Landschaft gab die angestrebte Wiedervereinigung der Halbkantone den Ausschlag, in Bern der Eisenbahnbau mitten durch Bauernland.

Die mehrteilige Serie ist ganz auf unseren Autor zugeschnitten: Claude Longchamps vielseitige Expertise als Politikwissenschafter und Historiker macht ihn zu dem Mann, der Orte, an denen sich Wichtiges ereignet hatte, zum Sprechen bringt.

Longchamp hat als Gründer des Forschungsinstituts gfs.bern die Politikforschung in der Schweiz auf ein neues Level gehoben. Heute ist er der erfahrenste Politikanalyst der Schweiz. In Kombination mit der Geschichte bietet Longchamp schon länger als «Stadtwanderer» Rundgänge durch Bern und andere Schweizer Schauplätze an, die grossen Anklang finden. 

«Longchamp performt Demokratie», schrieb einmal ein Journalist zu einer «Stadtwanderung» durch Bern.

Longchamp ist auch leidenschaftlicher Blogger: In Zoonpoliticon Externer Linkschreibt er über politikwissenschaftliche Themen. Als «Stadtwanderer»Externer Link bringt er Orte zum Sprechen, die in der Entwicklung der Demokratie eine wichtige Rolle gespielt haben.

Er postet zudem regelmässige Beiträge auf FacebookExterner Link, Instagram Externer Linkund TwitterExterner Link.

Auswirkungen der Industrialisierung

Letzteres ist typisch – und sinnbildlich. Denn die Industrialisierung, welche die Schweiz in dieser Zeit mit Wucht erfasst hatte, passte nicht allen. Viele fühlten sich überfahren.

Entsprechend wuchs in den 1860er-Jahren in der Schweiz eine vielseitige Opposition zum dominanten Freisinn: Dieser bildete die mächtigste Partei des Landes, stellte die gesamte Regierung und war sozusagen der politische Arm der wirtschaftlichen Revolution. Der Freisinn agierte in der Schweiz zunehmend grossbürgerlich und kapitalistisch.

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Das rief vor allem kleinbürgerliche Berufsleute aus der Beamten- und Lehrerschaft auf den Plan. Sie machten sich in befreundeten Lokalmedien für Staatsreformen stark.

Demokratie-Historiker Rolf Graber aus Zürich schreibt, Volksrechte habe man gefordert, um in der Zeit der Industrialisierung eine verträglichere Form der Modernisierung zu bewirken.

Einigend wirkte in der losen Demokratischen Bewegung ein grundsätzliches Vertrauen ins männliche Stimmvolk. Dieses sei durchaus in der Lage, politische Beschlüsse hinsichtlich der Vorteile und Nachteile zu beurteilen, argumentierte die Demokratische Bewegung. Wenn ein Parlamentsbeschluss der Allgemeinheit nichts nütze, dann sollte das Volk auch ein Veto dagegen aussprechen können, ohne dass es gleich zu Neuwahlen kommen müsse.

Beginn der Volkssouveränität

So führte die Schweiz mit der zweiten Bundesverfassung, also 25 Jahre nach Gründung des Bundesstaats, Volksrechte wie das Gesetzesreferendum ein. Damit konnte die parlamentarische Minderheit verlangen, dass die Stimmberechtigten die letzte, verbindliche Entscheidung treffen sollten. 

Dieses Vetorecht war nichts weniger als die Einführung der Volkssouveränität.

Die zweite Bundesverfassung von 1874 brachte dem noch jungen Bundesstaat aber auch eine umfassende Konsolidierung. So sicherte erstmals ein ständiges Bundesgericht eine kantonal einheitliche Rechtsanwendung. Die Juden bekamen die volle Kultusfreiheit, die man ihnen bis anhin verweigert hatte. Und den männlichen Niedergelassenen aus anderen Kantonen gewährte man nach einem kurzen Übergang die politischen Rechte. Besser garantiert wurden zudem einige bis dahin mangelhaft ausgebildete Grundrechte wie das auf Eheschliessung. Und verboten wurde die Todesstrafe.

Tiefe kantonale Spaltung

Die höchste Zustimmung zur neuen Verfassung gab es mit sagenhaften 97% Ja-Stimmen im Kanton Schaffhausen. Es war ein kleiner Kanton in Nordosten des Landes mit kompakter Bevölkerung, fast so wie es sich Jean-Jacques Rousseau 100 Jahre davor als Basis der Volkssouveränität ausgedacht hatte.

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Doch auch der Gegenpol bestand aus Kleinkantonen: In Uri sagten 92% Nein, und Appenzell-Innerrhoden waren 86% Prozent dagegen.

Die beiden Extreme unterschied ihre Konfession: Ganz hohe Ja-Anteile gab es in reformierten Kleinkantonen, Tiefstwerte in katholischen.

Für das ausgefeilte Gesamtwerk waren aber zwei Anläufe vonnöten. Zwei Jahre davor war eine erste Totalrevision der Bundesverfassung in der Volksabstimmung noch durchgefallen. Das Volks-Nein war hauchdünn, klar ablehnend war jedoch das Ständemehr.

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Referendum: Volksabstimmung als Vetorecht

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Referendum, 1874 in der Verfassung verankert, ist untrennbarer Teil der direkten Demokratie in der Schweiz. Es ist das Vetorecht, mit dem das Volk Entscheide des Parlaments ablehnen kann. Es gibt ein fakultatives und ein obligatorischen Referendum. Die Details dazu liefert die folgende Animation. (Michele Andina, swissinfo.ch)

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Eine vielfältige Opposition war damals die Ursache. Denn zur katholisch-konservativen Gegnerschaft kam 1872 die der französischsprachigen Bevölkerungsteile hinzu.

Der Wandel zur Demokratie mit Volksrechten

Wie stark die Demokratische Bewegung das Politverständnis in den reformierten Kantonen verändert hatte, zeigt das Schaffhauser Beispiel. Anders als im nahen Winterthur im Nachbarkanton Zürich gab es da keine starke Bewegung, die sich gegen das Grosskapital gewandt hatte. Doch die so genährten Auffassungen hatte man gerade in der Ostschweiz flächendeckend übernommen. Die Zustimmungswerte waren entsprechend verteilt.

Geholfen hatte auch eine Kaskade von Verfassungsrevisionen in zahlreichen Kantonen. Exemplarisch war die von 1869 im Kanton Zürich. Sie versuchte erstmals die Volksherrschaft juristisch zu verankern. Dafür entstand mit der Demokratischen Partei in Winterthur eine Gegenkraft zur Liberalen Partei in Zürich. Die Reformbereitschaft der Bürger beschleunigt hatte zudem die grosse Cholera-Epidemie im vorangegangenen Winter.

Von der Mehrheits- zur Verhandlungsdemokratie

Die Folgen von 1874 für die Bundespolitik waren erheblich. Davor hatte der Freisinn alle Wahlen für den National- wie auch den Ständerat gewonnen. Das hatte, begünstigt von der noch rein repräsentativen Demokratieform, eine Kultur der Kompromisslosigkeit nach angelsächsischem Vorbild geformt.

Heute unterscheidet man zwei Demokratiemuster:

Das Ideal der Wettbewerbsdemokratie mit meist zwei Parteien, die sich abwechselnd in die Aufgaben von Regierung und Opposition aufteilen. Das war die Schweiz von 1848 nicht zuletzt wegen dem Mehrheitswahlrecht für National- und Ständerat. Nur kam es nie zum notwendigen Regierungswechsel.

Das Ideal der Konsensdemokratie findet vor allem in kulturell gespaltenen Gesellschaften Anwendung. Es basiert auf dem Proporzwahlrecht, einem Mehrparteiensystem und einer umfassenden Machteilung in der Regierung. Die Schweiz gehört seit 1959 dazu.

Dazwischen entwickelte sie sich nicht zuletzt wegen den Volksrechten vom ersten zum zweiten Ideal.

Die Einführung des Referendums brachte genau das ins Wanken: Die ersten acht Abstimmungen gingen allesamt zugunsten der Opposition aus.

Dies führte im Parlament zu einem Umdenken, letztlich zu einer neuen parlamentarischen Kultur. Man begann zwischen Regierung und Opposition zu verhandeln. Im besten Fall, um ein Referendum zu vermeiden, im zweitbesten, um die Angriffsflächen bei einer verlangten Volksentscheidung zu verringern.

1874 war somit auch der Startschuss zur Konkordanz-Demokratie der Schweiz. Verhandlungskulturen in Behörden machten den Anfang, breite Abstützungen von Regierungen sollten folgen. 1891 dann wurde erstmals ein Katholisch-Konservativer in den siebenköpfigen Bundesrat gewählt. Gleichzeitig liess man die Verfassungsinitiative zur partiellen Revision des Grundgesetzes zu.

Verbindung demokratische Institutionen – demokratische Bürger

Über die Bedeutung dieser Verfassungsreform sind sich Schweizer Demokratie-Historiker von Andreas Gross bis Jo Lang einig: 1874 stabilisierte man nicht nur den Bundesstaat. Mit den Volksrechten fand man auch die Übereinstimmung zwischen demokratischen Institutionen und Demokratieempfinden der Bürgerschaft.

Diese Synthese katapultierte die Schweiz für fast zwei Jahrzehnte an die Spitze der weltweiten Demokratie-Entwicklung. Erst als Neuseeland 1893 Wahlen, Volkabstimmungen und das Erwachsenenwahlrecht einführte, wurde die Schweiz wegen ihres noch unbestritten reinen Männerwahlrechts überrundet.

Mit der Jahrhundertwende aber gab die Schweiz ihren Lead in der globalen Demokratie-Entwicklung ab. Damals war in der Schweiz die schrittweise Erweiterung der Volksrechte zur Kontrolle von Parlament und Regierung der grosse Trend.

International hingegen war nach dem Ersten Weltkrieg die Normierung der parlamentarischen Demokratien ohne Volksabstimmungen die vorherrschende Entwicklung.

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