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«Recht auf Abwahl ist ein Sicherheitsventil der Demokratie»

Die Synagoge von Endingen, eines von nur zwei Dörfern in der gesamten Schweiz, in denen Juden bis 1866 leben mussten. RDB

Sie sind als Bürger:in enttäuscht und möchten Ihrer Regierung ein Ende setzen? In der Schweiz besteht diese Möglichkeit: Man kann hier Amtsträger:innen auch abwählen. Nur ist dieses weitreichende Volksrecht in der Schweiz nur den Wenigsten bekannt. Der Politikwissenschaftler Uwe Serdült weiss, warum das so ist.

Seit 1848, dem Jahr der Gründung der Schweiz als moderner Bundesstaat, kennen Kantone das Recht auf Abwahl kantonaler Regierungen und ParlamenteExterner Link.

Das grösste Interesse daran stammte aus dem Ausland. 2015 publizierte der Politikwissenschaftler Uwe SerdültExterner Link vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) den Artikel «Eine schlafende Institution, Geschichte, Gesetzesnormen und -praxis des Abwahlrechts in der Schweiz».Externer Link

Beim vorliegenenden Beitrag handelt es sich um ein Interview mit Uwe Serdült aus dem Jahr 2016. Autorin Patricia Islas hat es am 5. April 2022 aktualisiert, siehe die Antwort Serdülts zur Abwahl von Regierungsmitgliedern im Kanton Genf, welche die Genfer:innen im letzten Jahr an der Urne annahmen.

Uwe Serdült
Uwe Serdült, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Demokratie Aarau zvg

swissinfo.ch: Während man in anderen Ländern vom Volksrecht zur Abwahl der Regierung nur träumt, wird von diesem Recht in der Schweiz kaum Gebrauch gemacht. Warum nicht?

Uwe Serdült: Es ist ein letzter Ausweg, wenn alle anderen Mechanismen gescheitert sind. Das Recht auf Abwahl der vom Volk gewählten Behörden wurde von Mitte bis Ende des 19.Jh. festgeschrieben, d.h. zur Zeit der Konsolidierung des modernen Bundesstaates. Damals war die Schweiz weit entfernt von einem geordneten und ruhigen Land, wie wir es heute kennen.

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Die Abwahl war das erste Volksrecht, Referendum und die Volksinitiative, die beiden Prunkstücke der direkten Demokratie in der Schweiz, kamen erst später. Diese ermöglichen es, ohne die Regierung oder das Parlament auflösen zu müssen, eine Abstimmung über ein Gesetz zu verlangen oder eine Verfassungsänderung zu beantragen.

150 Jahre freie Niederlassung für Juden

Die Bundesverfassung von 1848 beschränkte das Niederlassungsrecht auf Schweizer christlicher Religionen.

Nach dem gescheiterten Versuch, diese Beschränkung auf kantonaler Ebene zu eliminieren, beschlossen der Bundesrat und das Bundesparlament, sie aufzuheben.

Am 14.Januar 1866 hiessen die Schweizer mit 53,2% das freie Niederlassungsrecht für Juden gut.

Dazu kommen die Wirksamkeit des Rechtssystems und verschiedene Mechanismen zur Rechenschaftspflicht öffentlicher Institutionen. Heute werden in der Schweiz Fälle der Untauglichkeit oder Korruption von Politikern vorwiegend auf dem Rechtsweg, auf Druck der Öffentlichkeit oder mit einer internen Neuorganisation gelöst.

Wie ist in der Schweiz das Recht auf Abwahl geregelt und wie oft wird davon Gebrauch gemacht?

Auf Bundesebene existiert es nicht. Nur sechs von 26 Kantonen haben eine entsprechende Gesetzgebung: Bern, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau, Uri und das Tessin; die beiden letzteren auch auf Gemeindeebene.

Es braucht ein Minimum an Unterschriften – abhängend von der abzuwählenden Behörde bis zu 30% der Stimmbürger:innen, um an der Urne die Regierung oder das Parlament oder beide abzuwählen. Im Gegensatz zu anderen Ländern zielt dieses Recht nicht auf Einzelpersonen, sondern auf die Gesamtbehörde, also die Institution.

Sagt eine Mehrheit Ja zur Abwahl, kommt es zur Auflösung der öffentlichen Institution und zu Neuwahlen bis zum Ende der Amtsperiode und den ordentlichen Wahlen.

Der Abwahl-Mechanismus wurde nur etwa ein Dutzend Male angerufen. Vier Anträge auf Abwahl kamen an die Urnen, aber nur einer wurde angenommen, 1862 im Kanton Aargau.

Die jüngsten Beispiele stammen aus dem Tessin, wo das Recht auf Abwahl auf die Regierung beschränkt ist: 2008 gab es einen Versuch auf Kantonsebene, 2011 in Bellinzona auf einen Gemeindeebene.

Die einzige diesbezüglich erfolgreiche Abstimmung in der Schweiz fand vor 154 Jahren statt und dabei ging es um eine antisemitische Angelegenheit.

Ja, das liberale und protestantische Parlament des Aargaus wollte den Juden den Landerwerb und mittels Gesetz die freie Niederlassung gewährleisten, da sie sich nur in Endingen und Lengnau, zwei katholischen, ärmlichen und ländlichen Gemeinden des Kantons ansiedeln durften.

Einige katholische Politiker organisierten zusammen mit protestantischen Kreisen eine Protestbewegung. Sie griffen die Häuser von Juden an und nahmen das Abwahlrecht in Anspruch. Es brauchte 6000 Unterschriften und in weniger als einem Monat sammelten sie 9000. Im Juli 1862 wurde das Parlament mit einer Mehrheit von 63% der Stimmen abgewählt, die Regierung trat zurück und es kam zu Neuwahlen.

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Diese Abwahl erlaubte es, eine tiefe Unzufriedenheit im Volk zu Beginn eines demokratischen Prozesses zu kanalisieren.

Es ist äusserst wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Mechanismus zu einer Zeit benützt wurde, als die schweren Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken noch in frischer Erinnerung waren.

Aber im Gegensatz zur Zeit vor 1848 legten die Konfliktparteien den Streit nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in einem institutionellen Rahmen bei. Man hatte eine lange Periode von Revolutionen und radikalen Änderungen hinter sich und es war der Augenblick zur Organisation der modernen Schweiz. 

Einige Kantone wiesen ausdrücklich drauf hin, dass sie das Recht auf Abwahl zwecks Vermeidung von Revolutionen festschrieben. Dies war die Rechtfertigung zu dessen Institutionalisierung und zur Vermeidung von Gewalt. Das Recht auf Abwahl sollte ein die Möglichkeit bieten, Dampf abzulassen und so zur Kanalisierung der Volksunzufriedenheit beitragen. 

Recht auf Abwahl

Die Schweiz war eines der ersten Länder, welches das Recht auf Abwahl gewählter Behörden anerkannte.

Gegenwärtig kennen u.a. die USA, Japan, Deutschland, Polen, Peru, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Argentinien und Venezuela dieses Recht. Dieses ist allerdings unterschiedlich ausgestaltet.

Diese sechs Schweizer Kantone haben das älteste Instrument direkter Demokratie der modernen Schweiz in der Verfassung verankert:

Bern: 1846, für Regierung und Parlament

Solothurn:1869, für Regierung und Parlament

Thurgau: 1869, für Regierung und Parlament

Schaffhausen: 1876, für Regierung und Parlament

Tessin: 1892 für Regierung und seit 1911 für Exekutive der Gemeinden

Uri: 1915 für alle gewählten Kantons- und Gemeindebehörden.

Die Kantone Aargau (1852-1980), Basel-Land (1863-1964) und Luzern (1875-2007) schafften dieses Recht wieder ab.

Auf Bundesebene hat das Volk weder das Recht auf Wahl noch das auf Abwahl der Schweizer Regierung.

Seit 1900 gab es verschiedene Volksinitiativen, die erfolglos die Volkswahl des Bundesrats verlangten. Die letzte Initiative der rechtskonservativen SVP wurde 2013 von den Stimmbürgern mit 76% verworfen. 

Wird das Recht zur Abwahl in der Schweiz verschwinden?

Die historische Tendenz weist darauf hin. Nur noch sechs der neun Kantone, die es ursprünglich in der Verfassung verankert hatten, garantieren es noch.

Nach drei misslungenen Versuchen im Tessin, wo sich die politische Elite bis aufs Blut bekämpfen kann, wurde dieses Recht 2011 auf die Ebene der Gemeinden ausgeweitet. Es scheint, dass dieser Mechanismus v.a. auf lokaler Ebene noch notwendig ist. Nach einigen jüngsten Skandalen reklamieren Bürger dieses Recht in  Kantonen, die es bisher nicht kennen.

Haben diese Forderungen bereits zu konkreten Ergebnissen geführt?

Eine Abwahl richtet sich in diesem Land, in dem alle Exekutivorgane zwischen fünf und sieben Vertreter haben, grundsätzlich immer an eine Behörde als Ganzes. Derzeit gibt es aber eine grössere Neigung, einen individuellen Amtsenthebungsmechanismus besonders für kantonale Behörden einzuführen.

Dies ist in Genf der Fall. Ein Skandal, der das Vertrauen in ein Mitglied der Kantonsregierung beeinträchtigte, hat diesen Kanton dazu veranlasst, im Jahr 2021 einen Verfassungsrahmen zu annehmen, der die Möglichkeit vorsieht, eines der sieben Mitglieder seiner Kollegialregierung ab Juni 2023 abzusetzen. 

Mindestens 40 Mitglieder der kantonalen Legislative müssen für die Amtsenthebung zustimmen. Wenn mehr als zwei Drittel des Plenums dafür sind, wird es dem obligatorischen Referendum unterstellt. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber überlässt dem Volk die endgültige Entscheidung an der UrneExterner Link.

Auch der Kanton Aargau entscheidet im Mai 2022 über die Einführung der Amtsenthebung eins Mitgliedes der kantonalen Behörde, verzichtet dabei aber auf direktdemokratische Instrumente in dem vorgeschlagenen MechanismusExterner Link.

Wäre es angesichts der Schwierigkeiten der im Schweizer Parlament vertretenen Parteien, sich auf die Zusammensetzung des Bundesrats zu einigen, nicht sinnvoll, dass die Stimmbürger die Exekutive direkt wählen und abwählen könnten?

Es gab Initiativen in dieser Richtung, die gescheitert sind. Theoretisch ist auch eine Volksinitiative möglich, die den Rücktritt eines weiterhin vom Bundesparlament gewählten Bundesrats verlangt. Ich glaube jedoch nicht, dass eine solche an den Urnen Unterstützung fände.

Mit unserer Politik des Konsens zwecks Achtung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt sowie den Bemühungen um Interessenausgleich zwischen ländlichen und städtischen Gebieten bin ich mir nicht sicher, ob die Wahl und Abwahl des Bundesrats zweckmässig wäre.

Ich glaube, dies könnte zu einer grösseren Polarisierung führen oder Gräben zwischen den Kulturen aufreissen, die heute nicht oder nicht mehr existieren. Persönlich bin ich dagegen und finde, dass diese Kompetenz dem Parlament zusteht.

Weshalb interessiert das Abwahlrecht in der Schweiz auch im Ausland?

Politolog:innen anderer Länder, z.B. in Peru, wo Hunderte gewählter Behörden wieder abgewählt wurden, haben uns angefragt, wie dieser Mechanismus in der Schweiz funktioniere. Daraus wurde die Buchpublikation «La dosis hace el veneno», zu Deutsch: «Die Dosis macht das Gift aus». Es ist ein Vergleich über die Situation in Lateinamerika, den USA und in der Schweiz.

(Übertragen aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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