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«Viele unterschätzen die Schwierigkeiten des Milizamts»

Anna Giacometti, Gemeindepräsidentin von Bondo, das 2017 nach einer Hochwasserkatastrophe evakuiert werden musste
Milizpolitikerin, und plötzlich im Rampenlicht der Weltmedien: Anna Giacometti, Gemeindepräsidentin von Bondo. Das Dorf musste 2017 nach einem riesigen Murgang evakuiert werden. Dabei kamen oberhalb des Ortes acht Wanderer ums Leben. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Zunehmend professionelle Strukturen, d.h. Profi-Politiker mit Profi-Löhnen: Diese Zukunft schliesst der Politikwissenschaftler Markus Freitag angesichts der herrschenden Krise im Schweizer Milizsystem nicht mehr aus. Doch im Gespräch mit rund 1800 freiwilligen politischen Amtsträgerinnen und -trägern in der ganzen Schweiz sind Freitag und sein Team auch auf mögliche Auswege gestossen.

«Milizarbeit in der Schweiz»:Externer Link so nüchtern der Titel, so nüchtern auch der Untertitel: «Zahlen und Fakten zum politischen Leben in der Gemeinde.»

 Das Buch, das offiziell am 21. Mai erscheint, basiert auf Interviews mit rund 1800 Personen. Was sie eint: alle üben in ihrer Gemeinde ein öffentliches Amt aus. Freiwillig und nach getaner Arbeit im eigentlichen Beruf.

Markus Freitag, Professor für Politikwissenschaft an der Universität BernExterner Link, und Mitautoren haben die Repräsentanten des schweizerischen Milizsystems zu ihrer Motivation, den Herausforderungen und ihren Wünsche befragt.

Zum Buch

Zum Jahr der Milizarbeit veröffentlichen die Politologen Markus Freitag, Pirmin Bundi und Martina Flick Witzig von der Universität Bern das Buch «Milizarbeit in der Schweiz». Dieses basiert auf einer Befragung von rund 1800 Miliztätigen aus 75 Gemeinden in der ganzen Schweiz. Die Auswahl der Kommunen wurde auf solche zwischen 2000 und 20’000 Einwohnern eingeschränkt. Befragt wurden sowohl Exekutiv- als auch Legislativpolitiker sowie Mitglieder von Kommissionen.

swissinfo.ch: Haben Sie selbst ein Milizamt inne?

Markus Freitag: Nein. Es wäre für mich zurzeit sehr schwierig, ein solches Amt mit Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen – eine Herausforderung, vor der übrigens viele Miliztätige stehen.

swissinfo.ch: Sie würden dem typischen «Milizler» aber recht gut entsprechen, oder?

M.F.: Das stimmt. Der durchschnittliche Miliztätige ist unter anderem männlich, verheiratet, zwischen 40 und 64 Jahre alt und gehört einer Konfession an. Soziodemografisch gesehen würde ich also nicht schlecht auf das Profil passen.

swissinfo.ch: Rund 100’000 Personen in der Schweiz üben ein Milizamt aus. Gehört das Milizsystem zur DNA des Landes?

«Das Milizsystem gehört zur DNA der Schweiz.»

M.F.: Historisch betrachtet sicherlich. Die Schweiz versteht sich traditionell als Beteiligungsdemokratie: Es wird den Bürgern zugetraut, sich neben den Wahlen auch im Rahmen der direkten Demokratie an politischen Entscheiden zu beteiligen.

Durch Föderalismus und Konkordanz wird die Teilnahme von Minderheiten an der Politik sichergestellt. Das Milizsystem ist eine weitere Säule dieses Systems.

Markus Freitag
Die Gemeindepolitik in den Händen von Profis statt von Feierabend-Politikern: Die Entwicklung weg vom Milizsystem schliesst Politikwissenschaftler und Buchautor Markus Freitag nicht mehr aus. M.Freitag

swissinfo.ch: Das Interesse, sich freiwillig zu beteiligen, ist aber rapide am Sinken. Viele Gemeinden haben Mühe, Ämter zu besetzen.

M.F.: Das ist richtig. In Umfragen betonen zwar drei Viertel der Schweizer die Wichtigkeit des Milizsystems. Allerdings möchten die wenigsten selber ein Amt übernehmen. Sie haben Respekt vor dem Aufwand und der Verpflichtung. Gerade in der heutigen Zeit, wo der Individualität, der Ungebundenheit und der Flexibilität ein hoher Stellenwert zukommt.

swissinfo.ch: Sie haben an die 1800 Gemeinderäte, Gemeindeparlamentarierinnen und Mitglieder von Kommissionen befragt. Was motiviert diese Menschen für ihr Amt?

M.F.: Am häufigsten genannt werden die Motive, sich uneigennützig für das Gemeinwohl einzusetzen, in der Gemeinde mitzubestimmen und die eigenen Talente und Kenntnisse in der Milizarbeit einzusetzen.

Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Während die Älteren stärker Aspekte der Mitbestimmung betonen, engagieren sich die Jüngeren eher, um sich selber weiterzubringen. Sie versprechen sich berufliche Vorteile und sehen das Amt vielfach auch als Sprungbrett für eine politische Karriere.

swissinfo.ch: Müssten sich die Gemeinden stärker auf diese Motivationen ausrichten, um die junge Generation für die Milizarbeit zu gewinnen?

«Wenn die Gemeinden Jüngere für Ämter gewinnen wollen, müssten sie die Vorteile einer persönlichen Weiterentwicklung hervorheben.»

M.F.: Wenn die Gemeinden Jüngere für Ämter gewinnen wollen, müssten sie genau diese Vorteile einer persönlichen Weiterentwicklung hervorheben. Geht es um einen beruflichen Nutzen, müssen aber auch die Arbeitgeber mitspielen und signalisieren, dass die Milizarbeit geschätzt wird.

swissinfo.ch: Nur etwa ein Drittel der befragten Miliztätigen sind Frauen, etwas mehr als zehn Prozent sind über 64 Jahre alt. Da liegt viel Potenzial brach.

M.F.: In der Tat. Vielfach wird die Hoffnung geäussert, dass gerade die Älteren motiviert werden könnten, ein Milizamt zu übernehmen. Es scheint aber nicht viele Ältere in die Milizarbeit zu drängen. Womöglich möchten die älteren Mitbürger den Ruhestand geniessen oder sind in familiäre Betreuungsaufgaben eingebunden.

Jahr der Milizarbeit

Mit dem Jahr der MilizarbeitExterner Link will der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) die Öffentlichkeit auf die Krise des Schweizerischen Milizsystems aufmerksam machen.

Insbesondere auf Ebene der Lokaldemokratie nimmt die Krise teils dramatische Ausmasse an. Die wichtigsten Faktoren: sinkende politische Beteiligung der Bürger, Mangel an Freiwilligen für politische Ämter, abnehmender politischer Gestaltungsspielraum, Gemeindefusionen, Verschwinden lokaler und regionaler Medien.

Um eine vertiefte interdisziplinäre Diskussion über mögliche Auswege zu fördern, organisiert der SGV im Jahr 2019 schweizweite Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Sektoren.

Ein Höhepunkt findet am 23. und 24. Mai in Bellinzona statt: Am Sommerseminar diskutieren ExpertInnen über die Zukunft des Milizsystems (23.5.). Am 24. Mai ist Aussenminister Ignazio Cassis Ehrengast der Generalversammlung des Schweizerischen Gemeindeverbandes.

swissinfo.ch ist Medienpartner des «Jahres der Milizarbeit» und publiziert regelmässig Artikel zum Thema.

swissinfo.ch: Viele Befragte nehmen in ihrem Amt grössere Schwierigkeiten wahr, als sie im Vorfeld erwartet hätten, etwa in Bezug auf die zeitliche Belastung oder die Anforderungen an die eigenen Fähigkeiten.

M.F.: Tatsächlich unterschätzen viele die Schwierigkeiten, vor allem in grösseren Gemeinden. Möglicherweise bedenken gerade jene, die Freude am Einsatz fürs Gemeinwohl haben, anfangs zu wenig, wie hoch der Aufwand tatsächlich ist.

Interessant ist übrigens, dass vor allem Männer ihr fachliches Wissen eher überschätzen. Frauen unterschätzen sich diesbezüglich eher – was vielleicht mit ein Grund ist, dass sie unter den Miliztätigen unterrepräsentiert sind.

swissinfo.ch: Sind Milizämter heute zu anspruchsvoll?

M.F.: Das hängt stark von der Art der Tätigkeit ab und betrifft insbesondere die Exekutivämter. Einerseits sind die Ansprüche gestiegen, was die zeitliche Belastung und die inhaltliche Komplexität betrifft.

Andererseits wünschen sich über zwei Drittel der Miliztätigen aber auch mehr Entscheidungskompetenzen. Es scheint, dass die lokale Milizarbeit zwar anspruchsvoll ist, mit dem betriebenen Aufwand aber verhältnismässig wenig bewegt werden kann.

swissinfo.ch: Welche sonstigen Anpassungen befürworten die Befragten?

M.F.: Viele wünschen sich eine klarere Trennung zwischen strategischer und operativer Arbeit. Beispielsweise, dass sich ein politisches Gremium wie der Gemeinderat auf Grundsatzentscheide konzentrieren kann, während die Verwaltung für deren Umsetzung zuständig ist.

Oft genannt wird auch der Vorschlag, dass Amtsneulinge einen bezahlten Einführungskurs erhalten sollen.

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swissinfo.ch: Wie steht es um den Wunsch nach höherer Entschädigung?

M.F.: Dieser Wunsch wird hauptsächlich von Gemeinderätinnen und Gemeinderäten geäussert, obschon die Hälfte von Ihnen die Entschädigung insgesamt für angemessen hält.

Die Miliztätigen sprechen sich dazu überwiegend für eine Entlohnungsart aus, die das Amt nicht zu einem Beruf macht. Denn genau das würde den Grundgedanken des Milizsystems untergraben.

swissinfo.ch: Befragt wurden die Miliztätigen auch zur Idee, kommunale Ämter für niedergelassene Ausländer zu öffnen. Der Vorschlag stösst auf ein positives Echo – obwohl das Ausländerwahlrecht in Abstimmungen regelmässig chancenlos ist.

M.F.: Das stimmt. Das Ausländerstimmrecht erhält vor allem von Miliztätigen in grösseren Gemeinden Zustimmung. Die Befürworter sind 40- bis 64-jährig, Mitglied eines Gemeindeparlaments und stammen mehrheitlich aus der lateinischen Schweiz.

Die Differenz zu Abstimmungsresultaten lässt sich womöglich damit erklären, dass Miliztätige die praktischen Probleme des Milizsystems hautnah erleben. Im Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit würden sie zur Bewältigung der künftigen Herausforderungen auch auf Personen zählen, die keinen Schweizer Pass haben.

swissinfo.ch: Sie haben die Schweiz als Beteiligungsdemokratie bezeichnet. Wird die Beteiligungsdemokratie mehr und mehr zu einer Zuschauerdemokratie?

M.F.: Im Vergleich zur einfachen und niederschwelligen Teilnahme an Wahlen oder Abstimmungen erfordert das Milizengagement ein erhöhtes Mass an Verbindlichkeit, Dauerhaftigkeit und Verantwortung. Die Bereitschaft zu dieser anspruchsvollen Form der Beteiligung ist stark rückläufig.

Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Entwicklung zunehmend professionelle Strukturen mit sich bringt und hauptberufliche Politiker und entsprechende Entschädigungen dem Milizsystem den ehrenamtlichen Charakter entziehen werden.

swissinfo.ch: Wie würde das politische System der Schweiz dadurch verändert?

M.F.: Das Milizsystem trägt zur Verringerung der Distanz zwischen politischer Elite und Bevölkerung bei, schafft Identität zwischen Regierten und Regierenden und fördert das politische Vertrauen. Verändert sich dieses Organisationsprinzip, versiegt eine wichtige Quelle des politischen Kapitals der Schweiz.


Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

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