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«Die Milizpolitik entspricht nicht mehr der objektiven Realität»

Das Rathaus von Bellinzona
In vielen Schweizer Gemeinden ist die Arbeit der Exekutive in den letzten Jahren deutlich komplexer geworden. Aber die Bürger zögern, das politische Mandat zu professionalisieren. Die Mitglieder der Exekutive der Tessiner Stadt Bellinzona können ein Lied davon singen: Bei einer Volksabstimmung im Jahr 2018 wurde ihnen die gewünschte Gehaltserhöhung verweigert. RSI-SWI

Das Milizprinzip ist in der Schweiz noch fest verankert. Tatsächlich aber tritt anstelle des freiwilligen politischen Amts immer mehr die Professionalisierung. Das bestätigen auch die jüngsten Analysen eines Forscherteams. Einzig die direkte Demokratie vermag den Prozess etwas zu bremsen.

In der Schweiz «spricht man viel von der Milizpolitik, aber an objektiven Indikatoren gemessen zeigt sich, dass in verschiedenen Bereichen wenig davon übrig geblieben ist», sagt Andrea PilottiExterner Link, Ko-Kurator und Ko-Autor des auf Italienisch erschienenen Buchs «Miliz und Professionalität in der Schweizer Politik»Externer Link.

Das im Oktober 2018 auf Italienisch veröffentlichte Buch «Milizia e professionismo nella politica svizzera»Externer Link (Miliz und Professionalität in der Schweizer Politik) ist das Ergebnis der Arbeit von 11 Forschenden von vier Schweizer Universitäten.

Der 210-seitige Band analysiert, wie politische Mandate auf den verschiedenen institutionellen Ebenen des Landes wahrgenommen werden und wie sie sich im Lauf der Jahre entwickelt haben.

Zu diesen Indikatoren gehören etwa die für das politische Mandat aufgewendete Zeit und die entsprechende Vergütung. Aus den Analysen der elf Wissenschaftler geht hervor, dass die Professionalität in der Schweizer Politik heute eine Tatsache ist.

Und das nicht nur auf nationaler Ebene, «wo die Milizpolitik praktisch nur noch eine Worthülse ist», sondern auch auf kantonaler und kommunaler Ebene, «wo die Professionalität in den Regierungsämtern bereits gut etabliert ist», sagt Pilotti, Forschungsleiter an der Universität Lausanne.

Mandate in Regierungen werden in Tat und Wahrheit in Vollzeit ausgeübt und mit einem vollen Salär vergütet. Und das in allen Kantonen (mit Ausnahme des kleinen Appenzell Innerrhodens, wo die Funktion des Regierungsmitglieds in Teilzeit ausgeübt wird). Gleiches gilt für die Mandatsträger in den grossen Städten.

Gemeinden, Indikatoren für Kluft zwischen Mythos und Realität

Natürlich sind politische Exekutiven in kleinen und mittelgrossen Gemeinden noch Milizmandate. Doch viele Gemeinden bekunden Mühe, Freiwillige dafür zu finden, die erst noch geeignet für das Amt sind. Die Mandate werden immer anspruchsvoller, und Amtsträger sehen sich öfter der Kritik ausgesetzt.

Pilottis ernüchternde Bilanz: Die Vergütungen sind zu klein, um den Verlust an Arbeitsstunden zu kompensieren, und die Mandate verursachten auch Gefühle von Undankbarkeit und Frustration.

Neben verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die dieses Problem schon früher an den Tag gebracht haben, erwähnt der Forschungsleiter auch eine journalistische Untersuchung: Letzten November enthüllte die Westschweizer Zeitung Le Temps, dass sich in den Kantonen Waadt und Freiburg Amtspersonen derart unter Druck fühlten, dass daraus ein «Rücktritts-Tsunami» entstand. In nur zweieinhalb Jahren haben dort 12% der freiwilligen Feierabend-Politiker das Handtuch geworfen.

Direkte Demokratie bremst das Rad der Zeit

Jahr der Milizarbeit

Mit dem Jahr der MilizarbeitExterner Link will der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) die Öffentlichkeit auf die Krise des Schweizerischen Milizsystems aufmerksam machen.

Insbesondere auf Ebene der Lokaldemokratie nimmt die Krise teils dramatische Ausmasse an. Die wichtigsten Faktoren: sinkende politische Beteiligung der Bürger, Mangel an Freiwilligen für politische Ämter, abnehmender politischer Gestaltungsspielraum, Gemeindefusionen, Verschwinden lokaler und regionaler Medien.

Um eine vertiefte interdisziplinäre Diskussion über mögliche Auswege zu fördern, organisiert der SGV im Jahr 2019 schweizweite Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Sektoren.

Diskussionen zwischen Experten und der Öffentlichkeit sollten Impulse für Reformen geben, die nach Ansicht des SGV dringend notwendig sind, um das Milizsystem zu stärken und zu entwickeln.

swissinfo.ch ist Medienpartner des «Jahres der Milizarbeit» und wird regelmässig Artikel zu diesem Thema veröffentlichen.

Pilotti ist überzeugt, dass die Professionalisierung in der Politik angesichts der Entwicklung auf den verschiedenen Ebenen des Schweizer Bundesstaats weiter voranschreiten wird. «Ich glaube nicht, dass es zu enormen Umwälzungen kommen wird, aber steter Tropfen höhlt den Stein: nach und nach verändert sich der Stein. In der Schweiz dauern Veränderungen einfach lange», sagt er.

Diese Langsamkeit hat mit einem weiteren Eckpfeiler des politischen Systems der Schweiz zu tun: der direkten Demokratie. Aus diesem Grund sei der Prozess der politischen Professionalisierung in der Schweiz im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien «verspätet und noch unvollendet», stellt der Politikwissenschaftler fest.

Auf eidgenössischer Ebene erinnert Pilotti an eine Volksabstimmung vom Mai 1962Externer Link. Damals sagte eine Mehrheit klar Nein zu einer leichten Erhöhung des Sitzungsgelds für die Mitglieder des Parlaments. Ebenso klar wurden im September 1992 drei VorlagenExterner Link zu einer Parlamentsreform versenkt.

In den 2000er-Jahren kamen die Gehälter von Amtsträgern in verschiedenen Städten unter Druck. In Zürich, Frauenfeld, Bern, Biel, Luzern und Zug beschlossen die Stimmberechtigten, die Löhne der Mitglieder der Stadtregierungen zu reduzieren. In Bellinzona weigerte sich das Stimmvolk, die Vergütungen der Amtsträger der «neuen» Stadt zu erhöhen, die aus der Fusion von 13 Gemeinden entstanden war.

Der jüngste Fall betraf Bulle im Kanton Freiburg. Am 19. Mai 2019 lehnten die Stimmberechtigten der 23’500 Einwohner zählenden Stadt mit über 61% Nein den Wechsel von einer neunköpfigen Milizregierung zu einer Exekutive aus fünf Berufspolitikern ab. Das Stadtparlament hatte sich zuvor für die Professionalisierung ausgesprochen. Es waren dann rechte Parteien, die das Referendum gegen das Vorhaben ergriffen hatten.

Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität

Auf Stufe des Eidgenössischen Parlaments hingegen wurden in den 2000er-Jahren Änderungen vorgenommen, die diesem eine zentralere Rolle einräumten und umfangreichere Zulagen für Parlamentarierinnen und Parlamentarier einführten. Heute erlaubten diese «jenen, die das wünschen, ein menschenwürdiges Leben, ohne eine weitere Erwerbstätigkeit auszuüben», bemerkt Pilotti.

Im Lauf der Jahre hätten nicht nur die Vergütungen zugenommen, sagt der Forscher. Auch die Arbeitsbelastung im Parlament, namentlich in den Kommissionen, sei deutlich gestiegen. Auf diesem Niveau könne man nicht schlicht mehr von einer Nebentätigkeit sprechen: Es sei mindestens ein Haupt-, wenn nicht sogar ein Vollzeit-Beruf.

Doch obwohl sie mehr Zeit der parlamentarischen als der beruflichen Arbeit widmen, nennten sich viele Parlamentarier «weiterhin Milizpolitiker. Es gibt da eine Lücke zwischen dem subjektiven Wert, also ihrer Wahrnehmung der politischen Milizarbeit, und dem objektiven Wert, also der Zeit, die sie tatsächlich im Büro verbringen», so Pilotti.

Eine ähnliche Situation stellten die Forscher in kantonalen Regierungen fest. Dort «gibt es Formen der Professionalisierung in embryonaler Form. Die parlamentarische Tätigkeit bleibt bezüglich Vergütung eindeutig ehrenamtlich. Aber was die Arbeitsbelastung betrifft, wird sie immer anspruchsvoller und kann nicht mehr als marginal angesehen werden», sagt der Politologe.

Der Realität ins Auge sehen

Das Fazit der verschiedenen Recherchen der Autoren: In der heutigen Schweiz «entspricht die Milizpolitik nicht mehr der objektiven Realität». Tatsächlich bleiben «nur die Gemeindeparlamente und die Amtsträger in kleinen Gemeinden reine Milizpolitiker», betont Pilotti.

In Gemeinderegierungen, besonders in den mittelgrossen Gemeinden, die noch auf dem Milizprinzip basieren, hält der Politikwissenschaftler den Übergang zumindest zum Semiprofessionalismus für unaufhaltsam. «Die Gemeindearbeit ist komplexer geworden, sie erfordert mehr Fähigkeiten. Man kann nicht erwarten, dass Menschen zwei Tage oder mehr pro Woche für diese Aktivitäten aufwenden, ohne eine angemessene Vergütung zu erhalten. Das ist unrealistisch.»

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

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(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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