Landesrecht vor Völkerrecht? Andere Länder tun es längst
Eine Volksinitiative will die Schweizer Bundesverfassung über das Völkerrecht stellen. Wie regeln andere Länder das Verhältnis von nationalem zu internationalem Recht? Ein Überblick.
Am Mittwoch debattiert die grosse Parlamentskammer über eine VolksinitiativeExterner Link, die das Verhältnis zwischen Schweizer Landesrecht und Völkerrecht klären will (siehe Box). Die derzeit geltende Rechtslage in der Schweiz ist unübersichtlich. Eine klare Kollisionsregel fehlt. Das Bundesgericht gibt vermehrt dem Völkerrecht den VorrangExterner Link, was die Schweizerische Volkspartei (SVP) zur Lancierung der «Selbstbestimmungsinitiative» bewogen hat. Der Titel der Initiative bringt das Anliegen auf den Punkt, er lautet: «Schweizer Recht statt fremde Richter».
Wie regeln andere Länder das Verhältnis von Völkerrecht zu Landesrecht? Das Bundesamt für Justiz hat ein Gutachten erstellen lassen, um diese Frage zu klären. swissinfo.ch liegt dieses Gutachten vor. Ein Überblick:
Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungs-Initiative)»
Die Selbstbestimmungs-InitiativeExterner Link der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sieht mehrere Änderungen der Verfassung vor. Unter anderem:
- Neu ist die Schweizer Verfassung explizit oberste Rechtsquelle der Schweiz.
- Die Schweizer Verfassung steht neu über dem Völkerrecht und geht ihm vor – mit Ausnahme der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (beispielsweise Verbot von Folter, Sklaverei oder Angriffskriegen).
- Die Schweiz darf keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen, die der Verfassung widersprechen.
- Bei einem Widerspruch zwischen Verfassung und Völkerrecht soll die Schweiz die völkerrechtlichen Verträge ändern oder kündigen. Auch hier mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts: dieses bleibt weiterhin unantastbar.
- Neu sollen für die Gerichte nur noch jene völkerrechtlichen Verträge, die in der Schweiz dem Referendum unterstanden haben, massgebend sein.
- Deutschland: Eigene Verfassung steht über EMRK
In DeutschlandExterner Link hat das Völkerrecht grundsätzlich Vorrang vor nationalen Gesetzen. Mit einer Ausnahme: Völkerrechtliche Verträge, welche die politischen Beziehungen von Deutschland regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen eines «Zustimmungsgesetzes». Diese Abkommen haben in der Folge keinen Vorrang, sondern stehen auf gleicher Stufe wie ein gewöhnliches deutsches Gesetz. So auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Recht der Europäischen Gemeinschaften hingegen – das Europarecht im engeren Sinne – hat Vorrang vor dem Deutschen Recht.
- Frankreich: Internationales Recht steht über dem nationalen Gesetz
In FrankreichExterner Link haben internationale Abkommen eine höhere Rechtskraft als französische Gesetze – sofern die anderen Vertragsparteien sich auch an den Vertrag halten. Umstritten ist hingegen, ob internationales Recht einen höheren Rang als französisches Verfassungsrecht hat. Weder Verfassung noch Rechtsprechung oder Lehre geben auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Das Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel) und das höchste Verwaltungsgericht (Conseil d’Etat) wollen der französischen Verfassung den Vorrang gegenüber Völkerrecht geben.
Das Gemeinschaftsrecht (EU-Recht) geht gemäss französischer Lehre und Rechtsprechung den nationalen Gesetzen vor. Wenn es gegen die französische Verfassung verstösst, muss die Verfassung revidiert werden.
- Vereinigtes Königreich: Internationales Recht gilt nur in Form von nationalen Gesetzen
Grossbritannien hat keine geschriebene Verfassung. Völkerrechtliche Verträge werden in ein nationales Gesetz transformiert und haben denselben Rang wie «normale» Gesetze. Nur das Gemeinschaftsrecht (EU-Recht) hat Vorrang vor anderen Gesetzen.
- Vereinigte Staaten von Amerika: Nationales Recht steht über allem
Die USA gelten allgemein als Völkerrechtsskeptiker. Die amerikanische Verfassung kann in keiner Weise durch internationales Recht ergänzt, verändert oder eingeschränkt werden. Eine Rangordnung zwischen Bundesgesetzen und völkerrechtlichen Verträgen ist nicht explizit festgeschrieben. Gemäss Rechtsprechung kann das Parlament ein völkerrechtswidriges Gesetz gültig verabschieden – dieses geniesst dann Vorrang.
Das Völkerrecht geht aber dem Recht der einzelnen Bundesstaaten vor – so wie es in der Schweiz dem kantonalen Recht vorgeht. Weil Instrumente der direkten Demokratie in den USA nur auf Ebene der Gliedstaaten existieren, stellt sich die Frage der Geltung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen nicht auf die gleiche Art wie in der Schweiz.
Die Gerichte verweigerten internationalem Recht unter Hinweis auf nationales oder gar gliedstaatliches Recht wiederholt die Anwendung. Der Supreme Court hält die Urteile eines Internationalen Gerichtshofs nicht für bindend.
- Schweden: Mal so, mal so
In Schweden müssen völkerrechtliche Verträge (mit Ausnahme von Teilen des Gemeinschaftsrechts) in ein nationales Gesetz oder eine Verordnung transformiert werden – auch die EMRK. Das Abkommen hat dann den Rang eines gewöhnlichen Gesetzes oder einer Verordnung.
Bei Widersprüchen hat das schwedische Recht Vorrang. Die EMRK geht nur bei offensichtlichem Widerspruch vor. Das kommt in der Praxis fast nie vor, weil das Parlament keine EMRK-widrigen Gesetze erlässt.
Das EU-Recht geht schwedischen Gesetzen vor. Hingegen ist das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zur schwedischen Verfassung umstritten. Die Regierung ist der Meinung, die schwedische Verfassung gehe vor. Laut Gutachten im Auftrag des Bundesamts für Justiz ist es jedoch unwahrscheinlich, dass schwedische Gerichte dem Gemeinschaftsrecht wegen Verfassungswidrigkeit die Anwendung versagen würden.
- Indien: Setzt internationales Recht eher nachlässig um
Auch in Indien muss internationales Recht in einen nationalen Erlass transformiert werden und teilt dann dessen Rang. Allerdings hat Indien in der Vergangenheit zahlreiche völkerrechtliche Abkommen geschlossen und dabei die Transformation ins nationale Recht unterlassen. Die Richter versuchen das zu mildern, indem sie die Abkommen zur Auslegung des nationalen Rechts heranziehen.
Fazit: Kein Land gibt Völkerrecht pauschal den Vorrang
Keines der untersuchten Länder gibt dem Völkerrecht automatisch Vorrang. Die Gutachter drücken es folgendermassen aus: «Was die Vorrangsfrage betrifft, bekennt sich keine der untersuchten Staatsrechtsordnungen zu einem gleichsam ‹mechanisch› anzuwendenden ‹Primat des Völkerrechts›.»
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Das ist Wasser auf die Mühlen der Befürworter der «Selbstbestimmungsinitiative». Die Initianten argumentieren denn auch, der von Regierung, Parlament und Bundesgericht eingeräumte allgemeine Vorrang des Völkerrechts gegenüber Schweizer Landesrecht sei im internationalen Vergleich absolut einmaligExterner Link.
Die Gegner der Initiative hingegen wehren sich gegen «verkürzte» internationale VergleicheExterner Link.
Das macht die Schweiz zum Sonderfall
Tatsächlich ist die Schweiz in dreierlei Hinsicht ein Sonderfall:
Erstens ist da die direkte Demokratie. Die Gutachter schreiben: «Die im Rahmen der direkten Demokratie in der Schweiz entstandenen Probleme finden als solche in den Vergleichsländern weder direkt noch indirekt eine Entsprechung.»
Konkret geht es um Volksinitiativen, die gegen Völkerrecht verstossen. So ist beispielsweise das Bauverbot für Minarette möglicherweise nicht mit der in verschiedenen internationalen Abkommen garantierten ReligionsfreiheitExterner Link vereinbar – Gerichtsurteile dazu gibt es noch nicht.
Nur wenn eine Volksinitiative gegen zwingendes Völkerrecht verstösst oder die Einheit von Form und Materie nicht einhält, kann sie im Vornherein für ungültig erklärt werden. Das ist bisher nur äusserst selten geschehenExterner Link.
Zweitens ist die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit zu nennen: Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht, das neue Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft. Verfassungswidrige Bundesgesetze müssen von den Gerichten angewendet werden.
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Schweiz braucht kein Verfassungsgericht
Das Bundesgericht mildert das, indem es Bundesgesetze, die gegen Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen, nicht anwendet. Weil Menschenrechte und Grundrechte in der Schweizer Verfassung praktisch deckungsgleich sind, folgt daraus eine «Quasi-VerfassungsgerichtsbarkeitExterner Link» für den Bereich der Menschenrechte.
Der internationale Menschenrechtsschutz ist für die Schweiz insofern wichtigerExterner Link als für andere Länder. Die «Quasi-Verfassungsgerichtsbarkeit» würde möglicherweise wegfallen, wenn es zu einer Kündigung der EMRK käme – was die Gegner der «Selbstbestimmungsinitiative» befürchtenExterner Link.
Drittens ist die Schweiz kein EU-Mitglied. Einen automatischen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht kennt die Schweiz also (noch) nicht. Bilaterale Verträge mit der EU regeln, welche Teile des Gemeinschaftsrechts auch für die Schweiz gelten.
Derzeit wird ein Rahmenabkommen mit der EU diskutiert, das die bilateralen Verträge bündeln soll, so dass nicht jede Änderung im EU-Recht mühsam mit der Schweiz nachverhandelt werden muss, sondern von der Schweiz «dynamisch» übernommen würde. Tut sie es nicht, wäre mit Gegenmassnahmen der EU zu rechnen.
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