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«Auch die Stimmbürger dürfen nicht allmächtig werden»

Swissinfo Redaktion

Eine breite Kampagne, auch in den sozialen Medien geführt, die junge Menschen politisiert und viele weitere an die Urne gebracht habe, die sonst nicht abstimmten: Dies zeigt sich laut Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Nein des Schweizer Stimmvolks zur Durchsetzungs-Initiative der SVP. Doch in die offizielle Reaktion der Justizministerin von Sonntagabend mischte sich auch tiefe Besorgnis. Hier ihre Rede im Wortlaut.


Sehr geehrte Damen und Herren,

das Volk hat entschieden. Es hat heute die Durchsetzungs-Initiative (DSI) mit 58.9 % abgelehnt. Und dies bei einer hohen Stimmbeteiligung von 63.1 %.

Ob Befürworter, ob Gegner: Ich glaube, wir haben es in den letzten Wochen alle gespürt: Diese Abstimmung hat die Schweiz bewegt. Das war eine besondere Abstimmung. Und: Es war eine wichtige Abstimmung. Aus mehreren Gründen: Erstens, und das sage ich sehr gerne: Die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger hat heute ein Bekenntnis abgegeben zu den Ausländern in unserem Land und ganz besonders zu den Secondos und Secondas.

Die Mehrheit der Stimmberechtigten hat heute gesagt: Die Secondos und Secondas sind nicht nur geduldet in der Schweiz. Sie sind vielmehr Teil der Schweiz, sie gehören zu uns. Und so sollen sie auch behandelt werden.

Zweitens, und das sage ich als Justizministerin: Heute war ein wichtiger Tag für die Schweiz als Rechtsstaat. Wir haben den Rechtsstaat heute nicht weiterentwickelt. Aber: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben heute den Rechtsstaat verteidigt.

Drittens, und das ist mir genauso wichtig: Heute haben die Stimmberechtigten gesagt: Auch in einer direkten Demokratie darf niemand allmächtig werden, auch die Stimmbürger nicht. Anders gesagt: Die Gewaltenteilung gehört zur Demokratie.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger selber haben entschieden, dass sie nicht auch noch die Rolle des Parlaments und der Gerichte übernehmen wollen. Diese Selbstbeschränkung ist ein Zeichen von Reife, von demokratischer Mündigkeit.

Heute war viertens ein wichtiger Tag für die Schweiz, weil die Mehrheit der Stimmbürgerinnen gesagt hat: Nationales Recht soll nicht über die Menschenrechte gestellt werden.  Meine Damen und Herren, warum war das nicht nur eine wichtige, sondern auch eine besondere Abstimmung?

«Standpunkt»

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Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, dass die Durchsetzungs-Initiative klar angenommen würde. Was dann geschehen ist, haben wir in dieser Form noch kaum je erlebt.

Es wurde mobilisiert: mit allen heute möglichen Kommunikationsmitteln, klassischen und neuen, in den sozialen Medien, mit dringlichen und anderen Aufrufen, Manifesten und Aktionen. Das hatte sehr erfreuliche Ausprägungen: Ich würde mal behaupten, dass diese Kampagne einige junge Menschen politisiert hat.

Viele Menschen, die sonst nicht an die Urne gehen, gingen an die Urne. Es fanden Diskussionen statt über den Rechtsstaat, über die Gewaltenteilung, über Begriffe wie die Verhältnismässigkeit. Also über Themen, die man nicht als wahnsinnig sexy bezeichnen würde – und doch wurde mit erstaunlicher Leidenschaft darüber debattiert.

Ich fand diese Mobilisierung, diese intensiv gelebte direkte Demokratie der letzten Wochen faszinierend. Erfreulicherweise ging das durch alle Gesellschaftsschichten und alle Generationen hindurch.

Ja: Wir haben ein beeindruckendes und in dieser Form auch neuartiges Engagement der Zivilgesellschaft erlebt. Das Abstimmungsergebnis ist nicht die Folge einer millionenschweren Kampagne. Das Ergebnis ist die Folge des Engagements von unzähligen Bürgerinnen und Bürgern.

Und wenn ich heute die Lebendigkeit unserer direkten Demokratie lobe, dann will ich das aber nicht verklärend tun. Es war nämlich so, und das besorgt mich: dass es in den letzten Wochen neben viel positiver Energie auch viel Unverständnis, Aggression und auch Hass gab.

Und wir kommen nicht darum herum, eine gewisse Spaltung in unserem Land festzustellen – und dies nicht zum ersten Mal: Es ziehen sich Gräben durch unsere Gesellschaft, die mich beunruhigen. Gräben zwischen Stadt und Land; Gräben teilweise auch zwischen den Landesteilen; Gräben zwischen jenen, die sich als weltoffene Schweizerinnen und Schweizer verstehen und jenen, die allem, was europäisch oder ausländisch oder anderweitig fremd ist, mit Skepsis oder Ablehnung begegnen.

Jene, die heute in der Minderheit sind, waren auch schon in der Mehrheit.
Die Qualität einer Demokratie, ganz besonders einer direkten Demokratie, zeigt sich – und davon bin ich überzeugt – im Respekt, den die Mehrheit der Minderheit entgegenbringt. Und die heutige Abstimmung war ja ganz direkt ein Entscheid einer Mehrheit – der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – über eine Minderheit, nämlich die Ausländerinnen und Ausländer.

In der Minderheit sind heute auch jene, die sich für die DSI ausgesprochen haben. Ihnen möchte ich deshalb sagen: Wenn Sie ja gestimmt haben, weil Sie für harte Gesetze sind für Ausländer, die schwere kriminelle Taten begangen haben: Das Parlament hat nach der Ausschaffungsinitiative die Gesetze verschärft und diese können jetzt in Kraft treten. Ihrem Anliegen wird also Rechnung getragen.

Das zeigt – und ich wende mich nochmals ausdrücklich an die Befürworter der Durchsetzungs-Initiative: Unsere Demokratie funktioniert: Lassen Sie sich nicht einreden, unser Parlament sei wertlos und eine Schwatzbude, in der man seine Zeit verplempert. Das stimmt nicht. Solche Aussagen sind Gift für unsere Demokratie.

Es gibt wenige Länder auf der Welt, in denen die Institutionen auch nur annähernd so gut funktionieren wie in der Schweiz. Früher waren wir stolz darauf. Lassen wir uns nicht einreden, bei uns sei alles schlecht.

Meine Damen und Herren: Wenn die Gräben, die es in unserer Gesellschaft gibt, kleiner werden sollen, dann gibt es nur einen Weg: den Dialog. Deshalb habe ich zwei Botschaften an jene, die heute Nein gesagt haben und sich für dieses Nein persönlich engagiert haben. 

Erstens: Setzt dieses zivilgesellschaftliche Engagement fort, das ihr in den letzten Wochen mitentfacht habt.

Und zweitens: Versucht Brücken zu bauen zu jenen, die heute in der Minderheit waren.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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