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So blickt eine ukrainische Politikerin auf den Friedensgipfel in der Schweiz

Die Aussenpolitikerin Lisa Jasko führt im Interview mit SWI swissinfo.ch aus, warum der Friedensgipfel in der Schweiz wichtig ist, und reagiert auf die Kritik an der Verschiebung der Wahlen in der Ukraine.

Lisa Jasko ist Abgeordnete der ukrainischen Regierungspartei Diener des Volkes.

Die 33-Jährige war von 2019 bis 2021 Präsidentin der Delegation der Ukraine im Europarat und ist bis heute Mitglied. Entsprechend ist sie eine gewichtige Stimme in der ukrainischen Menschenrechts- und Aussenpolitik.

SWI swissinfo.ch traf Jasko Mitte Mai am Rande des Geneva Summit for Human Rights and Democracy und sprach mit ihr über ihre Erwartungen an den kommenden Friedensgipfel, die Haltung der Schweiz zum Krieg in der Ukraine und die Situation in der Ukraine.

Jelysaweta "Lisa" Jasko am Geneva Summit
Jelysaweta “Lisa” Jasko wünscht sich mehr von der Schweiz. Geneva Summit

SWI swissinfo.ch: Am 15. und 16. Juni findet auf dem Bürgenstock oberhalb des Vierwaldstättersees ein Ukraine-Friedensgipfel statt. Was haben Sie für Erwartungen an den Gipfel?

Lisa Jasko: Das ist eine schwierige Frage. Denn wir sehen nicht, dass Russland bereit ist, den Krieg zu beenden. Und wir werden keine Kompromisse eingehen in Fragen, die das Leben der Menschen in der Ukraine betreffen.

Auf diplomatischer Ebene wünsche ich mir, dass der Gipfel eine Koalition internationaler Partner ermöglicht, die zu einem späteren Zeitpunkt mit Russland zusammenarbeiten und eine konkrete Positionierung zur Beendigung des Krieges einnehmen und vorlegen kann. Diese Position sollte jedoch sehr klare Punkte enthalten.

In dieser Hinsicht ist das Treffen in der Schweiz wichtig: Um Länder wie China oder arabische Staaten mit an den Tisch zu bringen. Die verschiedenen geopolitischen Auseinandersetzungen und die Propaganda Russlands haben dazu geführt, dass bisher nicht Vertreter aller Länder die Möglichkeit hatten, sich zu treffen und die Positionen der anderen zu hören. Meine Hoffnung ist es, dass dieser Dialog ermöglicht wird. Ob es so kommt, sehen wir dann.        

SWI: Was ist aus Ihrer Sicht das Minimalziel, damit der Gipfel ein Erfolg ist?

LJ: Wir wollen, dass möglichst viele Länder unseren Friedensplan unterzeichnen. Es wäre ausserdem hilfreich, wenn namhafte internationale Stimmen Russland diese Botschaft übermitteln. Aber Putin kann man nicht trauen. Das ist ein grosses Problem.

SWI: Neben der zweifelhaften Vertrauenswürdigkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Welche Herausforderungen stellen sich dem Friedensgipfel?

LJ: Viele Herausforderungen in der Welt sind aneinandergekoppelt. Daher sollte die Lösung für den Frieden komplex sein. Wie können wir zum Beispiel sicherstellen, dass Russland für die Waffenproduktion nicht mit dem Iran zusammenarbeitet?

Mir ist es ausserdem sehr wichtig, klarzumachen, dass Unternehmen eine gewisse Verantwortung tragen. Es geht nicht nur um den Export von Gütern nach Russland, sondern auch um den Export in Drittländer, die dann über Umwege in Russland landen können. Wer den Krieg beenden will, füttert nicht den Krieg.

Und seien Sie nicht naiv: Jedes Werkzeug, jedes Element, jedes technische Detailstück von Unternehmen, die Mikrochips oder Prozessoren produzieren, kann in einem russischen Panzer oder einer russischen Rakete landen. Wenn wir alle, die Unternehmen und die Regierungen, Schritte vorwärts gehen, um dies zu vermeiden, kann es Fortschritte geben.

Bundesrätin Amherd, Selenski und Beat Jans
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt der Staatssekretärin Christine Schraner Burgener beim Besuch in der Schweiz im Januar 2024 die Hand. Auf dem Foto von links nach rechts sind auch zu sehen: Bundespräsidentin Viola Amherd, Aussenminister Ignazio Cassis und Justizminister Beat Jans. Keystone / Alessandro Della Valle

SWI: Was erwarten Sie von einem neutralen Land wie der Schweiz in Bezug auf den Krieg in der Ukraine?

LJ: Die Schweiz ist daran die Bedeutung von Neutralität auf progressive Weise zu überdenken. Ich freue mich, wenn ich höre, dass sie unter Neutralität nicht Untätigkeit versteht. Neutralität bedeutet, sich für die eigenen Werte einzusetzen. Die Schweiz setzt sich für den Schutz der Menschenrechte ein. Natürlich wünsche ich mir unter anderem, dass die Schweiz auch militärisch kooperieren würde.

Für uns gibt es keine Neutralität, denn wir wissen, wer der Aggressor ist. Und als Ukrainerin wünsche ich mir von der Schweiz viel mehr.

Viele Delegierte der Schweizer Regierung sind in die Ukraine gereist. Wir haben die Solidarität der Schweiz gespürt, wie wir die Solidarität vieler Länder gespürt haben.

Bitte nutzen Sie die Gelegenheit, den Ukrainerinnen und Ukrainern in der Schweiz Wissen und Kontakte zu vermitteln, damit sie bereit sind für den Wiederaufbau der Ukraine! Geben Sie diesen Menschen eine Chance, sich nützlich zu machen. Zögern Sie nicht, sie einzubeziehen, zögern Sie es nicht hinaus. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt! Dafür spreche ich mich in jedem Land aus.

Ein weiterer Punkt: Die Rolle der internationalen Organisationen gilt es zu überdenken. Ich wünsche mir, dass die in Genf ansässigen Organisationen proaktiver werden.

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SWI: Was meinen Sie genau mit “proaktiver”?

LJ: Zum Beispiel das Rote Kreuz, das IKRK: Es arbeitet nicht so, wie wir es von ihnen verlangen. Es könnte beispielsweise Verhandlungen geben, um die Leichen an der Front zu bergen. Im Grunde arbeitet das IKRK nicht mehr, wie vor dem Krieg – weil es in der Ukraine zu gefährlich für sie ist.

Wir in der Ukraine sind nicht mehr naiv. Wenn wir früher glaubten, es gäbe Organisationen, Instrumente und Regierungen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen würden, so sehen wir jetzt die Grenzen dieses Engagements.

SWI: Es gab einige KritikExterner Link an der Tatsache, dass die Ukraine ihre für dieses Jahr geplanten Wahlen auf einen unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft verschoben hat. Wie kann die Ukraine ein Pfeiler der Demokratie sein, wenn keine Wahlen stattfinden?

LJ: Sobald es möglich ist, Wahlen abzuhalten, werden wir es tun.

Ich weiss, dass dies eines der Argumente ist, die Russland gegen uns vorbringt. Sie versuchen, die Vorstellung zu verbreiten, dass wir keine Wahlen abhalten. Normalerweise würden die Wahlen in diesem Jahr stattfinden, im Frühjahr oder im Herbst. Wir haben die Entscheidung, sie zu verschieben, noch gar nicht gefällt.

Obwohl die Wahlen sehr wichtig sind, glaube ich nicht, dass wir sie im Moment abhalten können, da uns Antworten fehlen, wie wir sie sicher durchführen können. Ausserdem: Wie können die Soldatinnen und Soldaten wählen? Was können wir in den Gebieten tun, die täglich unter Beschuss stehen? Wie können die aus dem Ausland geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer abstimmen? Sind Sie in der Schweiz bereit, Wahllokale für die hier lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer zu organisieren? Was ist mit internationalen Beobachtenden? Würden die an die Front gehen, um die Abstimmung zu observieren? Könnten Soldatinnen und Soldaten kandidieren?

Darüber hinaus müssen auch die Finanzen in Betracht gezogen werden. Ich glaube nicht, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer es verstünden, wenn wir jetzt Geld für die Wahlen ausgeben.

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SWI: Sie gehören zur Regierungspartei vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an. Ihre politischen Gegner könnten die Frage der Wahlen wohl anders sehen.

LJ: Die Menschen in der Ukraine sind im Überlebensmodus. Man muss in die Ukraine gehen, um das zu verstehen. Wer gerade an der politischen Macht ist, ist ihnen eigentlich egal. Sie wollen ein Ende des Kriegs, aber nicht um den Preis, Land aufzugeben, nicht um den Preis, zu vergessen, wie viele Menschen getötet wurden und wie viele ihre Angehörigen verloren.

Während des Krieges und des Kriegsrechts kann man keine Wahlen abhalten. Und wenn das Ausmass der Aggression geringer oder stabil vorhersehbar wäre, gäbe es vielleicht eine Möglichkeit. Aber ich mache mir mehr Sorgen um den Schutz der Demokratie während der Wahlen als darum, dass nun keine Wahlen abgehalten werden. Ich denke, dass Russland in diesem Stadium anfangen könnte, das Feuer zu eröffnen, wenn die Menschen zur Wahl gehen. Wir sollten uns erst einmal Klarheit darüber verschaffen, wie wir Putin stoppen können. Dann können wir Wahlen abhalten.

SWI: Als häufige Besucherin der Schweiz haben Sie einen Einblick in das hiesige System der direkten Demokratie erhalten. Glauben Sie, dass ein ähnliches System in der Ukraine funktionieren würde, sobald der Krieg vorbei ist?

LJ: Die Ukraine ist in ihrer Natur sehr demokratisch. Leider sind unsere Institutionen nicht so stark, aber wir versuchen, sie zu stärken. Vor dem Krieg waren wir ein recht dezentralisiertes Land: Wir haben den Gemeinden Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt, und sie konnten entscheiden, wie sie das Geld ausgeben wollten. Ich denke, dass wir grosse Fortschritte bei der partizipativen Demokratie gemacht haben.

Natürlich funktionieren viele Dinge jetzt anders wegen des Kriegs. Unsere Budgets sind begrenzt, wir stecken alles in die Rüstung.

Um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass das Schweizer Modell überall anwendbar wäre, weil die Schweiz einfach zu speziell ist. Ich weiss, dass es in der Schweiz auch problematisch werden kann zwischen der kantonalen Ebene und der Bundesebene. Die Dinge gehen unterwegs verloren.

Allerdings ist die Ukraine sehr digitalisiert ich denke, das ist etwas, was die Schweiz von uns lernen sollte.

Editiert von Virginie Mangin

Und was ist Ihre Meinung, liebe Leser:innen: Ist der Ukraine-Friedensgipfel ein sinnloses Unterfangen oder eine Chance für Frieden? Diskutieren Sie mit bei dialog:

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