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2016 – neuer Demokratie-Jahrgang mit viel Spannung

Swissinfo Redaktion

2015 war punkto Demokratie ein Schreckensjahr. Nicht nur wegen der Anschläge islamistischer Terroristen. Das neue Jahr hält aber neue Chance für mehr demokratische Partizipation bereit, und das auf allen politischen Ebenen. Ein Ausblick von Bruno Kaufmann von der Demokratie-Plattform people2power.ch. 

Die ersten Augenblicke des ersten Tages des neuen Jahres setzten einen Schlusspunkt unter ein schlimmes Jahr, das von eskalierenden Kriegen, einer massiven Flüchtlingskrise, wirtschaftlichen Turbulenzen und Naturkatastrophen geprägt war.

Was die Demokratie anbelangt, waren in vielen Teilen der Welt Rückschritte zu verzeichnen, gleichbedeutend mit einer riesigen Herausforderung für Prozesse, die im Gange sind.

Aber es gibt Hoffnung. Im neuen Jahr bieten sich zahlreiche Chancen für Bürgerinnen und Bürger, in Wahlen und Volksabstimmungen Entscheide von grosser Tragweite zu fällen. Im Folgenden ein Blick auf die wichtigsten Entwicklungen und Trends.

Macht des Volkes vs. Superpower

2016 wird nicht das Jahr der Herren Obama, Putin und Xi Jinping. Vielmehr wird es zum Jahr, das den Menschen in ihren Ländern die Chancen einräumt, mit ihrer Stimme gehört zu werden.

Ironischerweise sind es die Bewohner eines sehr kleinen Landes, welche die Herausforderung der Mächtigen dieser Welt eröffnen: Am 16. Januar wählen die Taiwanesinnen und Taiwanesen ihren neuen Präsidenten oder ihre neue Präsidentin sowie ein neues Parlament.

Bruno Kaufmann, Demokratie-Spezialist und Chefredaktor der Demokratieplattform people2power, die von swissinfo.ch gehostet wird. Zvg

Erstmals seit dem Rückzug der Truppen Nationalchinas Ende der 1940er-Jahre könnten die 23 Millionen Einwohner die herrschende Kuomintang, die Partei der Nationalchinesen, in die Opposition schicken. Dann nämlich, wenn eine Mehrheit eine Frau zum neuen Staatsoberhaupt machen sollte. Dies könnte Signalwirkung für das Volk auch in den Nachbarländern Hongkong, China und Vietnam haben, indem die Menschen dort mehr Einfluss verlangen könnten.

Später im Jahr können die Bürger Russlands Akzente setzen, wenn sie die 450 Mitglieder der Duma wählen, des nationalen Parlaments. Aber ob die Wahlen vom 18. September frei und fair verlaufen werden, ist alles andere als klar. Denn seit der Rückkehr Putins 2012 ins Präsidentenamt sind demokratische Rechte dramatisch unter Druck gekommen.

In den USA wählen die Amerikanerinnen und Amerikaner am 8. November einen neuen Präsidenten oder – als Premiere – eine Präsidentin. Die Schlacht um das Weisse Haus wird als grösste und teuerste Politkampagne aller Zeiten in die Annalen eingehen. Dabei werden auch Stärken und Schwächen einer der ältesten und grössten Demokratien der Welt ins Scheinwerferlicht gezerrt.

Offenes Zeitfenster

Ein Schimmer Hoffnung zeigt sich auch in Iran, wo der reformistische Präsident Hassan Rouhani seinen 75 Millionen Landsleuten eine Renaissance der Demokratie in Aussicht gestellt hat. «Jede Stimme wird gehört und gezählt», versicherte er im letzten Jahr bei der Ankündigung der Parlamentswahlen vom kommenden 26. Februar. 

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Die Hauptfrage, die sich den Wählern stellt, ist jene, ob sie an der Mehrheit der Fundamentalisten in der «Madschlis Schora Eslami», wie die Volkskammer Irans heisst, festhalten wollen.

Am 18. Februar befinden die Uganderinnen und Ugander darüber, ob Langzeit-Herrscher Yoweri Museveni eine weitere Präsidentschafts-Runde drehen kann. Museveni war 1986 Nachfolger von Diktator Idi Amin geworden.

Im Frühling finden zahlreiche weitere Abstimmungen und Wahlen statt, so in Portugal (24. Januar; Präsident), Schweiz (28. Februar; vier Vorlagen), Samoa (31. März; Parlament), Peru (10. April, Präsident) oder Schottland (5. Mai; Parlament).

Europa – das gleiche Prozedere wie jedes Jahr?

Auf den ersten Blick scheint es wie jede andere Abstimmung über Europa auch, von denen es seit 1972 bisher 55 gegeben hat. Aber wenn die Briten im September über den Verbleib Grossbritanniens in der EU befinden, ist das eine neue Dimension.

Denn es geht nicht nur um die Insel, sondern auch um ganz Europa, würde doch ein «Breixit», so die Bezeichnung eines Austritts Grossbritanniens, zur grössten Veränderung in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses führen. Im Falle eines «No», also eines Austritts, würden Versuche Schottlands und Wales zur Erringung der Unabhängigkeit wohl nicht lange auf sich warten lassen. Nur würden sie dann Mitglieder der EU bleiben.

2016 wird auch das Jahr sein, in dem das erste transnationale Instrument für direkte Demokratie effizienter und erfolgreicher werden sowie einfacher zu handhaben sein soll.

Seit ihrer Einführung 2012 sind 55 Europäische Bürgerinitiativen eingereicht worden. Aber nur drei von ihnen kamen auf die erforderliche Unterstützung, sind doch mindestens eine Million Unterschriften nötig, die aus mindestens sieben Mitgliedsländern stammen müssen. Bei den Bürgerinitiativen ging es um das Recht auf sauberes Wasser, die Eindämmung der Stammzellenforschung und ein Verbot von Tierversuchen.

Aktuell kämpfen fünf Initiativen gegen die von Brüssel hoch angesetzten Hürden. Sie betreffen die Themen Heirat, Verkehr, Cannabis, Umwelt und Demokratie.

Demokratie-Städte: Lokalmacht stärken rund um Globus

Spannendes und Ermutigendes zeichnet sich aber vor allem auf lokaler und regionaler Ebene ab, und dies sowohl in sozio-ökonomischer Hinsicht als auch betreffend Macht des Volkes.

Ein Beispiel dafür, wie ein Land nationale Macht aus dem Zentrum in die Regionen abgibt, ist Indonesien, jenes Land mit dem weltweit höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil.

Der Staat besteht aus über 6000 Inseln, auf denen 255 Millionen Menschen leben. Über die Hälfte von ihnen auf Java, einer Insel, die dreimal so gross ist wie die Schweiz. Allein in der Hauptstadt Jakarta, wo ich diesen Ausblick schreibe, leben über 30 Millionen Menschen.

Seit Ende der Diktatur und des Einheitsstaates Ende der 1990er-Jahre entwickelt sich Indonesien hin zu einer lebendigen Demokratie. Lokal gewählte Bürgermeister wie Joko Widodo, der mittlerweile Präsident ist, Tri Rismaharini (Surabaya, Stadt mit 6 Mio. Einwohnern) oder Ridwan Kamil (Bürgermeister von Bandung) sind mittlerweile mächtige und einflussreiche Promotoren für aktive Bürgerschaft und Mitbestimmung.

Ähnlich ermutigende Beispiele von partizipativer Stärkung von Gemeinden und Regionen gibt es in den meisten Ländern der Erde. Darunter auch solche mit sehr schwachen demokratischen Strukturen auf nationaler Ebene.

Während 2015 der Welt zahlreiche negative Schlagzeilen lieferte, wartet das neue Jahr mit neuer Hoffnung auf. Aber auch mit neuen Aufgaben, um die Demokratie etwas demokratischer zu gestalten.

Die in diesem Artikel ausgedrückten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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