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Die laute und die stille Revolution der Volksrechte

Swissinfo Redaktion

Der bedeutendste Wandel der direkten Demokratie in der Schweiz liegt in der Internationalisierung ihrer Wirkungen. Wir haben die Tragweite dieses Wandels noch nicht voll erkannt. Gastbeitrag von Wolf Linder, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern.

Die Annahme der Initiative zur Masseneinwanderung hat die politische Schweiz aufgeschreckt: Die Initiative war die letzte einer Reihe von Volksbegehren, in der es der SVP gelang, ihre konsequent verfolgte Ausländer- und Asylpolitik dort zum Erfolg zu bringen, wo parlamentarische Mehrheiten fehlten. Und wie bei der Verwahrungs-, der Ausschaffungs-, der Minarett- und der Pädophileninitiative waren es Forderungen, welche verfassungs- oder menschenrechtliche Grauzonen betreten oder – wie bei der Personenfreizügigkeit – zum offenen Konflikt mit Brüssel führten.

Aber das zunehmende Unbehagen gegenüber der Volksinitiative hat allgemeine Gründe: Als ungutes Zeichen wird gesehen, dass die Zahl eingereichter Volksbegehren in den letzten zehn Jahren zugenommen hat und dass sich ihre Erfolgschancen inzwischen von 10 auf 20 Prozent verdoppelt haben. So fehlt es denn nicht an Stimmen, welche das Initiativrecht in ein engeres Korsett zwängen wollen.

Das Parlament wird sich in absehbarer Zeit damit beschäftigen, denn die Staatspolitische Kommission des Ständerats schlägt eine Revision des Initiativrechts vor: Verlangt werden unter anderem eine verfassungsrechtliche Vorprüfung von Initiativtexten, ein Verbot der Rückwirkung und eine strengere Handhabung des Prinzips der Einheit der Materie. Leicht kürzere Leinen also für die Volksinitiative. 

Wolf Linder, 1944 geboren, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Seine Lehr- und Forschungstätigkeit konzentrierte sich auf die schweizerische Politik und die Demokratieentwicklung in Entwicklungsländern. Als Experte wirkte er für Bund, Kantone und Gemeinden sowie für nationale und internationale Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Dieser Beitrag ist zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. November 2015 erschienen. Adrian Moser

In genau die entgegengesetzte Richtung zielt die SVP: Die angekündigte Verfassungsinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» soll die Grauzonen zwischen den beiden Rechtskreisen beseitigen. Sie will damit, ganz im Sinne von «right or wrong, my country», die Wirkung der Volksinitiative nicht eingrenzen, sondern erweitern.

Verfassungsrecht respektieren

Das sind überaus kontroverse Auffassungen zur Volksinitiative und zum Verhältnis von Landes- und Völkerrecht. Falls die eidgenössischen Räte eine Reform des Initiativrechts gutheissen, könnte uns ein Abstimmungskampf blühen, der emotional hohe Wellen schlägt, denn dabei geht es um die ureigenen Rechte der Stimmbürger. Eine laute Revolution ist angesagt.

Noch ist allerdings wenig beachtet worden, wo die grösste Fragwürdigkeit der heutigen Initiativenpolitik liegt. Ich sehe sie weniger bei der Grauzone des Völkerrechts als bei der Respektierung des eigenen Verfassungsrechts, insbesondere des Grundsatzes der Gewaltenteilung: Wer das Gesetz macht, darf dieses nicht selber anwenden, und wer das Gesetz anwendet, unterliegt der richterlichen Kontrolle.

Dieser Grundsatz ist fundamental. Ohne ihn gibt es keine Demokratie, und weltweit müssen wir mit ansehen: Wo die Gewaltenteilung ausgehöhlt wird, steht der Anfang von autoritären Regimen. Nun sind wir freilich drauf und dran, das Prinzip der Gewaltentrennung im Umgang mit Volksinitiativen schlicht zu vergessen: Da wird die «wortgetreue Umsetzung» von Volksinitiativen eingefordert (oder gar von der Regierung versprochen), und zwar nicht nur bei der Masseneinwanderungs-, sondern auch bei der Zweitwohnungsinitiative. Schon das ist verfassungspolitisch zersetzend. 

Mehr noch: Da wird eine «Durchsetzungsinitiative» lanciert, um dem Parlament jede Ausgestaltung einer Verfassungsvorlage zu verbieten. Das ist Unfug und eine grobe Verletzung des Grundsatzes der Gewaltentrennung. Zwar fungiert die Stimmbürgerschaft in Volksinitiativen als oberstes Organ und Verfassungsgeber. Sie darf aber nicht für autoritäre Zwecke eingespannt werden. Und nichts entbindet die Stimmbürgerschaft als Verfassungsgeber, den Grundsatz der Gewaltentrennung zu respektieren. Volksinitiativen sind also nur dann verfassungskonform, wenn sie dem Parlament ein Minimum an gesetzgeberischer Ausgestaltung erlauben und wenn diese eine minimale richterliche Kontrolle gestattet.

Volksinitiativen, welche diesem Kriterium nicht entsprechen, sind daher als ungültig zu erklären. Da wir keine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, ist ein solcher Entscheid vom Parlament zu treffen. Dieser wäre endgültig. Hier hätte das Parlament seine Rolle als Hüter der Verfassung sehr viel ernster zu nehmen. Dazu braucht es nicht zwingend neue rechtliche Grundlagen – aber einigen politischen Mut.

Unscharfe Abgrenzung

Daneben gibt es eine stille, fast unbemerkte Revolution der Volksrechte. Sie ist eine Folge der Internationalisierung der Politik und des Rechts. Mehr als die Hälfte der jährlichen Rechtsetzung beim Bund entfällt heute nicht mehr auf das Landesrecht, sondern auf das internationale Vertragsrecht.

«Standpunkt»

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Auch viele landesrechtliche Vorlagen sind zunehmend auf das internationale Recht abzustimmen. Eine eindeutige, scharfe Abgrenzung zwischen Innen- und Aussenpolitik gibt es heute nicht mehr. Das berücksichtigt die Ausdehnung des Staatsvertragsreferendums von 2003 auf alle Verträge, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten. Damit soll die Stimmbürgerschaft in aussenpolitischen Vorlagen eine möglichst gleichwertige Letztentscheidung treffen können wie bei innenpolitischen Verfassungs- und Gesetzesänderungen.

Das ist eine fundamentale Neuerung gegenüber dem 20. Jahrhundert, in welchem die direkte Demokratie im Wesentlichen auf die Innenpolitik beschränkt war. Eine umfassende Mitbestimmung des Volkes in der Aussenpolitik kennt kein anderes Land in der Welt. Sie ist auch für uns eine eigentliche Revolution, deren Tragweite wir noch nicht ganz erkannt haben. Die «Internationalisierung» unserer direkten Demokratie enthält ein Risiko und eine Chance zugleich.

Direkte Demokratie als Gegengift

Zunächst zum Risiko: In der Innenpolitik spielt direkte Demokratie, vereinfacht gesagt, zwischen Regierung und Volk. Hin und wieder sagt die Stimmbürgerschaft «Nein» in der Meinung: Diese Vorlage gefällt mir nicht, der Bundesrat soll eine bessere bringen. Und der Stimmbürger kann damit rechnen, dass der Bundesrat tatsächlich eine bessere Vorlage bringt – er ist nämlich faktisch zur Fortsetzung des Dialogs gezwungen. In der Aussenpolitik kommt ein dritter Partner dazu, und das verändert die Situation fundamental. Statt einer Dyade zwischen Regierung und Volk haben wir eine Triade mit einem Drittpartner.

Wenn die Schweizer Stimmbürgerschaft Nein zu einem völkerrechtlichen Vertrag sagt, ist der internationale Partner, anders als der Bundesrat, überhaupt nicht gezwungen, sich auf neue Verhandlungen einzulassen. Das ist unsere derzeitige Situation mit den bilateralen Verträgen: Wir können sehr wohl in die Verfassung schreiben, der Bundesrat habe die Personenfreizügigkeit neu auszuhandeln. Aber das bleibt toter Buchstabe, wenn Brüssel darüber keine neuen Verhandlungen mit der Schweiz will. Dieses Risiko ist beträchtlich, weil die Schweiz die Bilateralen mehr braucht als die EU, und es kann in die aussenpolitische Isolation führen.

Direkte Demokratie in der Aussenpolitik bietet aber auch Chancen. Die letzten zwei Jahrzehnte waren geprägt von einer galoppierenden Globalisierung, die wir vor allem in Gestalt der Europäisierung erleben. Sie haben Wirtschaft und Politik mehr umgekrempelt als die fünf Jahrzehnte davor. Nur: Globalisierung und Europäisierung haben etwas gemeinsam. Beide schaffen nicht nur Gewinner, sondern eine grosse, aber heterogene Gruppe von Verlierern. Beide stärken politisch die Exekutive und die internationalen Gerichte, und sie entmachten die nationalen Parlamente.

Globalisierung wie Europäisierung haben ein Demokratiedefizit. Hier bildet die direkte Demokratie ein Gegengift: Jeglicher internationale Vertrag muss den Test des fakultativen oder des obligatorischen Referendums bestehen und damit den mehrheitlichen Präferenzen der Stimmbürgerschaft entsprechen. Die Begrenzung der Europapolitik auf die bilateralen Verträge zeigt, dass die Stimmbürgerschaft der heutigen Hyperglobalisierung nur begrenzt zustimmen mag. Kein einziges Land, niemand sonst hat die Möglichkeit, im wenig demokratischen Prozess der Globalisierung und Europäisierung seine eigenen Präferenzen so wirksam zum Ausdruck zu bringen wie die Stimmbürgerschaft der Schweiz.

Fazit: Der bedeutendste Wandel der direkten Demokratie liegt in der «Internationalisierung» ihrer Wirkungen. Das betrifft sowohl das Referendum wie die Volksinitiative. Die Tragweite dieses Wandels haben wir noch nicht voll erkannt. Wir werden lernen müssen, mit den Risiken wie den Chancen dieser stillen Revolution umzugehen. Das erfordert Lernprozesse von uns allen. 

Die im Artikel ist erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. November 2015 erschienen. Die darin ausgedrückten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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