Wie bei Tinder und Parship – nur in der Politik
Wie Junge an Bord der Politik holen? Indem man sie ihre Ideen digital sammeln lässt und sie dann mit PolitikerInnen aus Fleisch und Blut zusammenbringt. Maurus Blumenthal, Geschäftsleiter des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente DSJ, beschreibt, wie das funktioniert.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.
Im Berner Bundeshaus, dem Sitz von Regierung und Parlament der Schweiz, ist noch wenig los an diesem Montagmorgen.
Doch in einem Gang wird bereits eifrig diskutiert. Es sind aber weder Lobbyisten noch Journalistinnen, die hier auf einen Nationalrat einreden. Nein, an diesem Morgen sitzen zwei Sechzehnjährige mit dem jungen Walliser Nationalrat Philippe Nantermod an einem Tisch.
Adrien und Maxime tragen dem Parlamentarier ihr Anliegen vor. Sie wollen nichts weniger, als in der Schweiz das Mindestalter für den Lernfahrausweis von heute 18 auf 16 Jahre zu senken. Mit anderen Worten: Jugendliche sollen also bereits mit 16 Jahren die Ausbildung zum Lenken eines Fahrzeugs in Angriff nehmen dürfen.
Mit dem Politik-Profi Nantermod schauen die beiden Mittelschüler, wie der Vorstoss ausgestaltet sein muss, damit er Chancen hat, im Parlament eine Mehrheit zu finden. Da kommt es auf jedes Wort an.
«Sie zückten auf dem Pausenplatz ihr Smartphone und tippten auf der Plattform engage.chExterner Link ihre Idee ein. Fertig!» Maurus Blumenthal.
Die Früchte ihrer Arbeit: Einige Wochen später reicht Nantermod im Rat die entsprechende Motion mit ihrer Forderung ein.
Wie bei Tinder und Parship
Wie aber kamen die beiden Walliser Schüler zu dieser einzigartigen Möglichkeit? Ganz einfach: sie hatten einige Zeit vorher auf dem Pausenplatz ihr Smartphone gezückt und auf der Plattform engage.chExterner Link ihre Idee eingetippt. Fertig!
Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Vorgehen undenkbar gewesen. Natürlich, die Jugendlichen hätten schon damals einfach einen Brief an ein Mitglied des National- oder Ständerats schreiben können.
Doch waren sie sich dieser Option überhaupt bewusst? Und wie hätten sie herausgefunden, welche Politikerin oder welchen Politiker sie idealerweise anschreiben sollen, die ihrem Vorschlag die grössten Chancen auf den politischen Erfolg bieten? Die Hürden waren hoch und es hätte damals allen Mut verlangt.
Schranken abbauen
Die digitale Welt kann solche Hürden tatsächlich abbauen. Das Projekt engage.ch des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (DSJ) tut genau dies und bringt Personen mit politischen Ideen und Anliegen zusammen, die sich sonst nie getroffen hätten – so wie dies bei Dating-Apps Tinder oder Parship der Fall ist.
Mit unserer Plattform verkuppeln wir aber nicht Menschen, sondern bringen das «Matching» in die Politik. Crowdsourcing nennt sich das öffentliche Sammeln von Ideen. Ein solcher Prozess eignet sich gerade für politische Ideen hervorragend.
Damit diese dann aber nicht einfach verpuffen, sondern möglichst eine politische Wirkung erzielen können, muss das Crowdsourcing über eine Schnittstelle zur realen Politik verfügen.
Schöner Erfolg
Diese Verbindung zwischen digitaler und realer Welt ist gerade in der Politik, wo der persönliche Kontakt stets eine wichtige Rolle spielen wird, entscheidend. Die Kommunikation und das Vertrauen erhalten in der persönlichen Begegnung eine ganz andere Qualität, als dies über die digitalen Kanäle der Fall ist.
Eidgenössische Abstimmungen: Schneller und bequemer zu relevanten Abstimmungsinformationen. Abonnieren Sie unseren Newsletter.
Der erste Erfolg liegt vor: Die Schweizer Regierung hat den ersten Vorstoss, der auf einem Vorschlag von Jugendlichen auf engage.ch beruht, dem Parlament zur Annahme empfohlenExterner Link. Dieser Empfehlung ist der Ständerat (kleine Kammer) mit seiner Zustimmung gefolgt. Damian Müller, jüngstes Mitglied des Ständerats, hatte das Postulat eingereicht. Das Votum der zweiten Parlamentskammer ist beim Postulat nicht erforderlich.
Verändert Digitalisierung die Partizipation?
In gewissen Bereichen verändert die Digitalisierung nur die Kommunikation, in anderen den Prozess oder das Produkt selbst. Die Frage, die wir uns stellen: Wie wird die Digitalisierung die Politik verändern und welchen Nutzen wird sie für die politische Partizipation haben?
Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung in der Schweiz bei Wahlen und Abstimmungen vor allem die politische Kommunikation und weniger die gesamten politischen Prozesse an sich verändern wird.
«Digitale Inhalte und Produkte sind nicht die einzige Lösung für die Förderung der politischen Partizipation». Maurus Blumenthal.
«Schwarm-Intelligenz»
Bei den informellen oder vorgelagerten politischen Prozessen bestehen die grössten Chancen, dass die Digitalisierung einen wirklichen neuen Mehrwert bieten kann. Hier kann die Digitalisierung durchaus eine positive «disruptive» Wirkung haben – sprich die Prozesse an sich verändern. Damit kann sie die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger verbessern.
So könnte die Digitalisierung neue Möglichkeiten bieten, wenn es um die Ideenfindung von Lösungsansätzen für komplexe Herausforderungen in der Politik geht. Dies könnte zum Beispiel bei Anhörungen oder Vernehmlassungen der Fall sein oder eben beim Sammeln von Anliegen und Ideen.
Grosses Potenzial in der Schweiz
Wenn man die staatlichen Aktivitäten in der Schweiz im Bereich der Digitalisierung in der Politik anschaut, stehen die Themen E-Voting, Open Data und E-Government im Vordergrund.
Wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei anderen Mitwirkungsprozessen geht, ist jedoch kaum etwas vom grossen digitalen Aufbruch zu spüren. Doch genau hier liegt das grösste Potenzial, mit relativ geringem Aufwand eine grosse Wirkung zu erzielen.
Für die Förderung der politischen Partizipation spielen digitale Inhalte und Produkte in Zukunft sicherlich eine immer wichtigere Rolle. Sie werden jedoch nicht die einzige Lösung für die Förderung der politischen Partizipation sein. Dafür ist die politische Partizipation zu komplex und von Begegnungen in der realen Welt abhängig.
Wie das Projekt engage.ch zeigt, kann aber mit einer gut aufgestellten Schnittstelle zwischen digitaler und analoger Partizipation sowie dem echten Willen der involvierten EntscheidungsträgerInnen durchaus eine Wirkung erzielt werden.
Bis Ende des letzten Jahres wurden im Schweizer Parlament alle elf Anliegen aus der engage-Kampagne «Verändere die Schweiz 2017!» als politische Vorstösse eingereicht.
Kampagne 2018 läuft
Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente DSJ hat zum Ziel, die politische Partizipation und die politische Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern. Dabei setzt der Verband auch stark auf digitale Inhalte und Produkte.
So stellt der DSJ mit der Partizipations-Plattform engage.cheine digitale Schnittstelle zwischen Jugendlichen und politischen EntscheidungsträgerInnen her.
Bei der engage-Kampagne «Verändere die Schweiz» kamen 2017 innerhalb von fünf Wochen über 700 Anliegen und Ideen von Jugendlichen für die nationale Politik zusammen. Die elf jüngsten Mitglieder des National- und Ständerats haben daraus je ein Anliegen ausgewählt. Dieses brachten sie über Vorstösse in der Grossen und der Kleinen Kammer ein.
Auch 2018 können auf engage.ch wieder Jugendliche bis 25 Jahre Ideen und Anliegen einreichen. Die Kampagne startete am 19. FebruarExterner Link. Sie dauert noch bis am 25. März 2018.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch