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Wenn Rajoy in die Schweiz ausgewandert wäre…

Swissinfo Redaktion

Schade, dass die Eltern von Mariano Rajoy nicht wie die meinen von Galizien in die Schweiz ausgewandert sind! Sicher wäre er mit dem Referendum in Katalonien anders umgegangen.

Als die Generation meiner Eltern in den 1960er-Jahren in die Schweiz kam, genoss sie die Frucht, die in Francos Spanien verboten war: die Demokratie. Sprachlos schauten sie zu, wie die Schweizer jedes Jahr mehrmals an die Urnen gingen, um über so unterschiedliche Themen wie die Bekämpfung des Alkoholismus oder die Wasserverschmutzung abzustimmen.

Wenige Jahre nach ihrer Ankunft erlebten sie erstaunt, wie sie selbst zum Abstimmungsobjekt wurden, als die Schweizer beschlossen, über ihre Anwesenheit im Land zu entscheiden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir an jenen Abstimmungssonntagen von 1970 und 1974 beklemmt auf die Abstimmungsresultate warteten. Und auch an die Erleichterung, als wir übers Fernsehen erfuhren, dass wir die Koffer nicht packen mussten.

Antonio Castiñeira ist der Sohn galizischer Auswanderer und wurde in Delémont, der Hauptstadt des Kantons Jura, geboren. Er ist Journalist und freier Mitarbeiter von swissinfo.ch.

Dank der Auswanderung entdeckte die Nachkriegsgeneration meiner Eltern, dass die Demokratie keine Erfindung des Teufels war, wie man es ihr in ihrem Land weisgemacht hatte. In der Schweiz debattierten die Leute, ohne sich aufzuregen; sie machten Wahlkampagnen, ohne aufeinander loszugehen oder sich anzuschreien. Die Gewerkschaften verteidigten den Abbau der wöchentlichen Arbeitsstunden, ohne von der Polizei unterdrückt zu werden.

Selbstbestimmung erleben

Es ist wirklich schade, dass die Eltern von Mariano Rajoy nicht wie die meinen nach Delémont (Delsberg) in der Nähe von Basel an der französischen Grenze ausgewandert sind, wo ich vor mehr als 50 Jahren geboren wurde. Dort hätten sie die Organisation eines Referendums zur Selbstbestimmung aus der Nähe miterleben können.

Die Jurafrage

Nach dem Sturz Napoleons teilte der Wiener Kongress 1815 das Bistum Basel dem Kanton Bern zu. Die Juragegend französischer Sprache und katholischen Glaubens kam so unter die Herrschaft eines überwiegend deutschsprachigen und protestantischen Kantons.

Durch Hügel und Berge isoliert, fühlten sich die Jurassier von Bern politisch und kulturell vernachlässigt. Ab den 1950er-Jahren kristallisierten sich die Forderungen nach Autonomie und dann nach Unabhängigkeit heraus, und es entstanden verschiedene Bewegungen und Fronten für und gegen die Trennung.

In den 1960er-Jahren wurden die Auseinandersetzungen heftiger. Den Diskussionen folgten auch Gewalttaten, und die Behörden sahen sich zum Einschreiten gezwungen.

Nach einem Dutzend Verhandlungen und Abstimmungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene entstand 1979 der 26. Schweizer Kanton. Die drei nördlichen jurassischen Bezirke formierten sich zum Kanton Jura, während die drei südlichen beschlossen, bei Bern zu bleiben.

Die Jurafrage war jedoch für die Separatisten nur zum Teil gelöst. Die Forderungen dauerten, wenn auch friedlicher, an.

Dutzende von Gesprächen und Verhandlungen beendeten im Juni 2017 – vielleicht – die Jurafrage, als Moutier (Münster) mit 51,7% der Stimmberechtigten beschloss, sich dem Jura anzuschliessen.

Das geschah im Frühling 1974, als eine grosse Mehrheit dieser nordöstlichen Gegend der Schweiz demokratisch beschloss, sich vom Kanton Bern zu trennen, um einen eigenen zu gründen.Ich mag mich erinnern, wie wir in den Jahren vor dem Referendum jeden zweiten Septembersonntag Zehntausende von Personen durch unsere Strasse ziehen sahen, die «Jura libre» riefen. Die Stimmen waren fordernd, und gleichzeitig herrschte Feststimmung.

Diese Wochenenden der Mobilisierung wurden offiziell «Volksfest» genannt. Die Leute verlangten die «Unabhängigkeit» von Bern und tanzten anschliessend in einem riesigen Zelt auf dem Pausenplatz meiner Schule, genau wie im Sommer in den Dörfern Galiziens.

Wenn Rajoy in dieser Umgebung aufgewachsen wäre, hätte er sich vielleicht wie ich mit dem Anliegen der Jurassier identifiziert. Ich war kaum 10-jährig, als ich mit Kollegen meines Fussballteams auf dem Weg zu einem Jugendturnier in Genf auf dem Territorium des «Feindes» an der Zerstörung einer Berner Fahne teilnahm. Sicher war im Jura nicht alles perfekt, es gab Zusammenstösse, doch das Recht auf Selbstbestimmung war die Lösung.

Aus «besserem Haus»

Ja, wie schade, dass Rajoy nicht wie ich im neugeborenen Kanton Jura aufgewachsen ist! Er hätte gemerkt, dass genauso wie die Schweizer nicht alle Spanier dieselbe Sprache sprechen und dieselbe Fahne hissen. So habe ich es Anfang der 80er-Jahre erfahren, als vor unserem Haus ungefähr hundert Personen mit der «Senyera» (katalonische Fahne) vorbeimarschierten.

Sie kamen zur Einweihung eines «Platzes des katalonischen Landes» nach Delémont und pflanzten inmitten eines Geländes, das wir zum Fussballspiel benützten, einen Baum. Noch in der Übergangsphase ehrte der neugegründete Kanton Jura Katalonien für seine Sehnsucht nach Freiheit.

Wirklich schade, dass Mariano Rajoy nicht in den Kanton Jura ausgewandert ist. Er hätte vor dem Verfassungsgericht sicher nicht auf das «Statut Kataloniens» zurückgegriffen. Er hätte vom Jura gelernt, dass man mit den tiefsten Gefühlen eines Volkes nicht spielt.

Er hätte auch die Unterdrückung vom 1. Oktober nicht zugelassen, denn seine Jahre in Delémont hätten ihn gelehrt, dass in solchen Fällen Gewalt mehr als kontraproduktiv ist. Sie ist ein Fehler.

Leider ist Mariano Rajoy nicht in die Schweiz ausgewandert. Galizische Familien «aus besserem Haus» wie die seine machen so etwas nicht. Schade…

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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