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Stimmt die Republik Moldau für die EU trotz Russland-Einfluss?

Am 20. Oktober stimmt die Bevölkerung eines kleinen, neutralen, viersprachigen Landes über den EU-Beitritt ab. In der Republik Moldau, die an die Ukraine grenzt, leben auch viele Russland-Sympathisant:innen. SWI swissinfo.ch war vor Ort, um zu erleben, wie direkte Demokratie unter diesen Umständen funktionieren kann.

Eigentlich waren wir schon bei der Verabschiedung. Da beginnt der Transnistrier in Gagausien von den Schweizer Kantonen zu schwärmen. In der Schweiz könne jeder Kanton seine eigene Politik verfolgen.

48 Jahre arbeitete Piotr Pusca als Elektroingenieur – erst in Charkiw, im Osten der Ukraine, später hier in Gagausien. Aufgewachsen ist er in Transnistrien. Damals war das alles Sowjetunion.

Heute ist Transnistrien ein nicht-anerkannter De-Facto-Staat, in dem etwa 1700 russische Soldaten stationiert sind, zwischen der Republik Moldau und der Ukraine. Russisches Militär attackiert Charkiw seit über zwei Jahren.

In Gagausien, im Süden Moldaus, sind trotzdem viele für eine Nähe zu Russland. Diese Sympathien sind so gross wie nirgends in diesem Land, das am 20. Oktober 2024 wählt und über den Beitritt zur Europäischen Union abstimmt.

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In dieser Volksabstimmung entscheidet sich, ob die Republik Moldau den EU-Beitritt als Ziel in die Verfassung schreibt.

Das Land mit 2,5 Millionen-Einwohner:innen ist eines der ärmsten Europas und seit Beginn der russischen Invasion in der benachbarten Ukraine besonders bedroht.

Das Schweizer Aussenministerium nennt die Beziehungen zur Republik Moldau «sehr gut» und schildert sie als zunehmend intensiver. Gemäss Aussenministerium gehört die Schweiz 2023 zu den «wichtigsten bilateralen Gebern der Republik Moldau».

Am längsten ist die Schweiz in Moldau im Gesundheitsbereich aktiv, weitere Felder sind wirtschaftliche Entwicklung und Lokalgouvernanz.

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine kam die Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge in Moldau hinzu. Schweizer Mittel fliessen unter anderem in den Demokratiebildungsunterricht, der seit fünf Jahren fester Bestandteil der Schulbildung ist.

Die Entwicklung der Demokratie in Moldau wird also auch von der Schweiz mitgeprägt.

Gleichzeitig hat die Republik Moldau manches mit der Schweiz gemeinsam: Sie ist ein kleines, viersprachiges und neutrales Binnenland. 1992, als die Schweiz bei der entscheidenden Abstimmung über die europäische Integration Nein sagte, gab es die Republik Moldau erst gut ein Jahr. Ist das Land nun an einem ähnlichen Scheideweg?

Russland als kleineres Übel

«Ich gehe wählen und ich werde gegen die Europäische Integration stimmen», sagt Piotr Pusca. Russland liefere das Gas, Russland sei das kleinere Übel. Piotr Pusca ist wütend und vertraut der Regierung nicht: «Alle, die nicht der Meinung von Präsidentin Maia Sandu sind, werden als russische Agenten hingestellt.»

Skepsis gegenüber der Politik ist in Moldau nachvollziehbar. Bis vor fünf Jahren stand das Land unter dem Machteinfluss des Oligarchen Vladimir Plahotniuc, der – wie es das Magazin der SpiegelExterner Link formulierte – in einer «von Korruption zerfressenen Republik» den «Staat kaperte». Seither jedoch hat das Land eine Entwicklung durchgemacht.

Piotr Pusca blickt in die Kamera.
Der einstige Elektroingenieur Piotr Pusca kommt ursprünglich aus Transnistrien, aber lebt in Gagausien. Er wird am 20. Oktober gegen den EU-Beitritt Moldaus stimmen. Vera Leysinger / Swi Swissinfo.ch

Aber nicht in Puscas Wahrnehmung. Er behauptet, die Europäische Union oder die USA würden intervenieren, wenn die proeuropäische Präsidentin Maia Sandu nicht wiedergewählt würde. Trotzdem sieht er den Föderalismus der Schweiz oder der USA als vorbildlich. Wie kommt das?

«In der Schweiz oder auch in den Vereinigten Staaten kann jeder Bundesstaat seine eigenen Gesetze machen», sagt Pusca. Die Schweiz sei ein kleines Land. Die Grossmächte im 19. Jahrhundert entschieden, sie solle unabhängig und neutral bleiben. In der Schweiz könne jeder Kanton für sich entscheiden, welche Sprache er habe.

Pusca ist nicht der einzige Schweiz-Kenner in Gagausien. Einst sagte ein gagausischer Regierungschef in der NZZ, man wünsche sich für Moldau eine «Art Schweizer Modell». Dabei hat die Region Gagausien bereits eine umfassende Autonomie.

Etwa vier von fünf Moldauer:innen sprechen Rumänisch als Erstsprache. Anerkannte Minderheitssprachen sind Russisch, Ukrainisch und die Turksprache Gagausisch.

In Comrat, der Hauptstadt von Gagausien, sprechen fast alle Russisch oder Gagausisch. Auf dem Stadtplatz fällt eine Werbung der Moldauer Regierung in rumänischer Sprache auf: «Europa für dich». Schulen sind renoviert, Freizeitzentren geöffnet und Photovoltaikanlagen installiert worden. Pusca findet, die Regierung müsste auch auf Russisch und Gagausisch informieren.

Würfel mit Wahlkampfaufschrift vor einer Kirche
Im Zentrum der Stadt Comrat steht ein Würfel, der für das EU-Referendum wirbt. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Als wir später Mihail Sirkeli die Frage stellen, ob diese Sprachwahl der Regierung nicht unsensibel war, erhebt der Journalist seine Stimme. «Das ist nicht die Schweiz! Ihr müsst eure Perspektive ändern. Erst wenn du selbst eine starke Identität hast, kannst du andere Identitäten respektieren.» Sirkeli ist Gründer des Online-Mediums Nokta.

Für die EU unter Russland-Sympathisant:innen

Nokta ist das einzige explizit proeuropäische Medium in Gagausien, finanziert vor allem durch das US-Aussenministerium, die Niederlanden und die US-amerikanische Stiftung National Endowment for Democracy. Nokta biete eine andere Perspektive, so Sirkeli, nicht nur auf die heutige Situation – sondern auch auf die Geschichte des Landes.

«Das russische Imperium und später die Sowjetunion verfolgten eine Politik der Russifizierung: Völker zu assimilieren und Identitäten zu töten», führt er aus.

In der Sowjetrepublik Moldau hatten Russen das Sagen. Wer Karriere machen wollte, musste Russisch sprechen. «Darum wollen sie auch heute Rumänisch durch Russisch ersetzen.» Und das ist für Sirkeli der Grund, weshalb die EU-Werbetafel auf dem Stadtplatz von Comrat nicht Russisch beschriftet sein kann.

Mihail Sirkeli blickt in die Kamera.
Mihail Sirkeli ist Gründer des einzigen explizit proeuropäischen Mediums in Gagausien. Vera Leysinger / Swi Swissinfo.ch

Aber wenn die EU-Werbetafel Gagausisch gewesen wäre, hätte das doch Respekt vor der lokalen Identität ausgedrückt? Sirkeli ist selbst Gagause. Er sagt, die Sprache liege im Sterben.

«Wahrscheinlich hätte man das tun können», sagt Sirkeli, «Aber diese Werbung wird nichts daran ändern, wie die Leute denken. Die Menschen sind schon gespalten. Vielleicht fünf Prozent schwanken. Die anderen haben ihre Meinung vor langer Zeit gemacht.» 2014 gab es eine Abstimmung nur in der Region Gagausien. Damals stimmten über 97% gegen die EU-AnnäherungExterner Link.

Kaum ein Land ist russischer Desinformation so sehr ausgesetzt wie Moldau – und innerhalb des Landes kaum eine Region so sehr wie Gagausien.

Russischer Einfluss in Gagausien

Hier regiert Evgenia Gutul, die noch 2024 Wladimir Putin besucht und für die mittlerweile verbotene Sor-Partei gewählt wurde. Die Partei trug den Namen ihres Anführers Ilan Sor, welcher gemäss Analyse der Nichtregierungsorganisation Promo-LEX Koordinator der «Hauptmanifestationen der hybriden KriegsführungExterner Link» Russlands in Moldau zu sein scheint.

Sor hat sich ins Ausland abgesetzt, nachdem er für seine Rolle im grössten Korruptionsfall der 2010er-Jahre verurteilt worden ist. Sirkeli sagt: «Ilan Sor ist ein Krimineller, der Hauptorganisator eines 1-Milliarden-Raubs an Moldauer Banken. Heute ist Ilan Sor ein Instrument des Kremls. Er investiert russisches Geld in Moldaus Politik und will das Land destabilisieren.»

Das Geld ist in Comrat sichtbar: Überall werben Plakate für Sors Gratis-Freizeitpark Gagauziya-Land. Im MeriSor-Laden können Ärmere verbilligte Produkte kaufen. Obwohl die Partei verboten ist, finden wir ein offensichtlich intaktes Partei-Büro vor, in dessen Innern ein Sor-Pappaufsteller lächelt.

Büro von Ilan Sors Unterstützenden in Comrat.
Büro von Ilan Sors verbotener Partei in Comrat. Vera Leysinger / Swi Swissinfo.ch

In dieser Umgebung klärt Nokta journalistisch auf. Auch zum Referendum ist ein Erklärartikel erschienen, der Ausgangslage und Folgen erklärt.

Dabei finden laut Sirkeli kaum Diskussionen mit Andersdenkenden statt. «Es gibt keine Debatte», sagt Sirkeli. Auf die Frage, was der Sinn einer Volksabstimmung ohne Debatte sei, sagt er: «Der Sinn des Referendums ist zu zeigen, dass die Mehrheit in Moldau für die Europäische Integration ist. So ist das.» Er hoffe und glaube, dass die Mehrheit Ja sage. «Aber ich lebe in einem Gebiet, in dem die Leute anders denken.»

In Gagausien leben etwa 4% der Moldauer:innen. Ihre Russlandnähe wird folglich nicht die Abstimmung entscheiden. Es ist eine arme Region. Doch die Fahrt von Comrat über die EU-finanzierte Autostrasse ist so sanft wie sonst kaum in Moldau.

Einige Dutzend Kilometer vor Chisinau beginnt es dann zu ruckeln und zu rütteln. In der Hauptstadt Moldaus ist die Stimmung anders: Das Regierungsgebäude ist Mitte September eingekleidet in einer überlebensgrosse EU-Flagge und einer Landesflagge. Europa-Embleme sind überall, in Parks, auf Schildern.

Ambivalente Meinungen zum Krieg in der Ukraine

Dass die Debatte so disparat wirkt, liegt auch an den russischen Eingriffen in Moldaus Politik. «In der Öffentlichkeit dominiert eine pro-westliche, pro-ukrainische Perspektive», sagt der Soziologe Petru Negura.

Negura findet es legitim, dass die Regierung einige Medien verbieten liess, die russische Propaganda reproduzieren. Doch es fehle an Plattformen, auf denen prorussischen Meinungen und ambivalente Perspektiven reflektiert würden, stellt Negura fest. «Darum informieren sich viele Russlandunterstützende in alternativen Quellen – unter anderem mit Kriegspropaganda.»

Im August 2023 glaubten 33,9% der Moldauer:innen, Russland trage die alleinige Verantwortung für die Invasion in der Ukraine. 25,1% sahen Russland im Recht. 23,9% sahen keine Seite im Recht und 15,6% verzichteten komplett auf eine Antwort.

«Soziologisch ist das interessant. Diese ambivalenten Leute könnten nach Ende des Krieges in Moldaus Gesellschaft als Vermittelnde auftreten. Meistens sind sie für Neutralität, wollen die Neutralität Moldaus ausbauen und fürchten, dass der Konflikt Moldau erfasst.» Aber laut Neguras Analyse kommen diese Stimmen in der Öffentlichkeit kaum vor.

Sehnsucht nach «richtigen Liberalen, Konservativen und Linken»

Vereinzelt gibt es kritische Stimmen, die nicht im Verdacht russischer Propaganda stehen. Der linke Aktivist, Politologe und Medienmacher Vitalie Sprinceana will dem Referendum «wahrscheinlich» fernbleiben, weil es um nichts gehe. Bereits 2017 hat das VerfassungsgerichtExterner Link die Verfassung nämlich für proeuropäisch befunden.

Vitalie Sprinceana blickt in die Kamera.
Der Politikwissenschaftler Vitalie Sprinceana engagiert sich unter anderem für ukrainische Flüchtlinge in Moldau. SWI swissinfo.ch

Mit Bedauern erklärt Sprinceana, dass die Politik nicht wirklich politisch sei in Moldau. Er wünsche sich «richtige Liberale, richtige Konservative und natürlich auch richtige Linke». So seien viele «der sogenannten Linken» etwa sehr konservativ – doch diese Haltungen würden von der Geopolitik eingeebnet. Die Links-Rechts-Einteilung laufe einzig über die Frage, ob man pro-Russisch oder pro-Europäisch sei.

In anderen Worten: Politik ist Geopolitik. «Diese Dichotomie ist gefährlich und trickreich», sagt Sprinceana. Er wünscht sich eine Demokratie mit tiefer inhaltlicher Auseinandersetzung. Doch momentan bleibt dafür wenig Raum – noch nicht mal in Bezug auf die EU.

«Die Leute verwechseln die Europäische Union und die Nato», sagt Dorina Rosca, «Dass man der EU angehören und neutral sein kann, kommt nicht an.» Die Ursache sieht sie in fehlendem Wissen. «Im Moment haben wir noch einiges an Arbeit an der politischen Kultur vor uns. In einem ersten Schritt müssen die Menschen über Prozesse informiert sein. Im Moment machen selbst die Medien diese Arbeit nicht.»

Die grosse Diaspora in der EU und in Russland

Rosca ist Sozialwissenschaftlerin und Präsidentin des Institut Européen d’Etudes du Développement in Paris. Sie lebt nach vielen Jahren im Ausland zwischen zwei Ländern, Moldau und Frankreich. Sie hat unter anderem zur Diaspora geforscht.

Über eine Million Moldauer:innen hat in den letzten 30 Jahren eine «Migrationserfahrung» gemacht. 1989 hatte Moldau eine Bevölkerung von 4,3 Millionen Menschen – heute sind es 2,5.

Dorina Rosca blickt in die Kamera.
Dorina Rosca forscht als Sozialwissenschaftlerin und ist Präsidentin des Institut Européen d’Etudes du Développement in Paris. Sie lebt zwischen Frankreich und Moldau. Vera Leysinger / Swi Swissinfo.ch

«Einst, bis 2010, sind viele nach Russland ausgewandert. Es war einfacher, billiger, es gab keine Sprachbarriere und eine kulturelle Nähe», erklärt Rosca. Spätestens nach der Visa-Liberalisierung 2014 haben sich die Migrationsflüsse nach Westeuropa ausgerichtet. «Heute leben mehr Moldauerinnen und Moldauer in der EU als in Russland.»

Bis heute wollen viele direkt nach dem Gymnasium ins Ausland: zum Beispiel fürs Studium nach Rumänien oder zum Arbeiten nach Italien oder in die Schweiz. «Das schafft auch demografische Probleme – wie Arbeitskräftemangel auf allen Niveaus: von Bauarbeitern bis Lehrerinnen.»

Viele Diaspora-Gemeinschaften, auch jene in der Schweiz, mobilisieren stark für das EU-Referendum. Moldauer:innen in Russland sehen es wohl anders.

Die Diaspora ist eine von zwei grossen Unbekannten am 20. Oktober. In den Umfragen, die dem Ja-Lager einen leichten Vorsprung geben, fehlen die Moldauer:innen im Ausland.

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Die zweite grosse Unbekannte in den Umfragen ist Transnistrien. Im autoritären Transnistrien wehen überall russische Flaggen, völkerrechtlich und aus Moldauer Perspektive gehört es aber zu Moldau. Die Transnistrier:innen können nicht nur in Moldau arbeiten, sondern dort auch wählen. Für sie werden Wahllokale auf der moldauischen Seite der Grenze eingerichtet.

Was passiert mit Transnistrien?

Was mit Transnistrien bei einem EU-Beitritt passieren würde, ist eine Frage, die die internationale Politik wohl noch Jahre beschäftigt. Es hängt – wie Moldaus Zukunft überhaupt – auch damit zusammen, was in der Ukraine passiert.

Wie viele Transnistrier:innen ihr politisches Recht nutzen, weiss man nach dem 20. Oktober.

Dann wird sich auch zeigen, wie viele gleich denken wie Piotr Pusca, der Transnistrier in Gagausien. Sollte es ein Nein geben, könnte Pusca immerhin erleben, dass Abstimmungsergebnisse in einer westlichen Demokratie nicht von den Machthabenden abhängen.

Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine reichte die Moldau bei der EU ihr Beitrittsgesuch ein. Die EU erteilte Moldau und der Ukraine dann im Juni 2022 den Status eines Beitrittskandidaten. Doch das alleine heisst nicht, dass es schnell geht: Albanien hat diesen Status bereits seit 2014.

Im Juni 2024 nahmen Moldau und die EU offizielle Beitrittsverhandlungen auf. Bis zum tatsächlichen Beitritt müssen viele Kriterien erfüllt und Fragen geklärt werden – unter anderem der Umgang mit dem abtrünnigen Transnistrien. Moldaus Beitritt zur EU wird wohl auch von der Zukunft der Ukraine bestimmt. Das Ziel der Moldauer Regierung ist der EU-Beitritt bis 2030.

Editiert von Mark Livingston

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