«Tendenz zur Radikalität, vor allem von rechts»
15 Jahre nach seinem Rückzug aus der Schweizer Regierung ist Adolf Ogi mehr denn je von der Konsensdemokratie überzeugt. Zuhören, gemeinsam nach Lösungen suchen, die Interessen des Landes voranstellen, lautet sein politisches Credo. Damit steht der 72-jährige, nach wie vor sehr populäre «Elder Statesman» innerhalb der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ziemlich alleine da. Diese will auch im Wahljahr 2015 mit rechtskonservativen, schwer umsetzbaren Volksinitiativen Erfolge feiern.
swissinfo.ch: Ihr Vater war langjähriger Gemeindepräsident in Kandersteg, dem Dorf im Berner Oberland am Fusse der Alpen. Was ist Ihre erste Wahrnehmung von direkter Demokratie?
Adolf OgiExterner Link: Mein Vater hat der Gemeinde gedient, erst als Mitglied der Schulkommission, dann als deren Präsident. Er war auch nebenamtlicher Gemeindekassier – die Finanzen Kanderstegs befanden sich in unserem Wohnzimmer. Dann wurde er Gemeinderatspräsident und Gemeindepräsident.
Als Bub sah ich, wie er die Gemeinde-Versammlungen daheim in der Stube vorbereitete. Ich nahm wahr, dass er durch die Gemeindeversammlung führte. Diese entschied als Souverän, ob sie den Anträgen von Gemeinderat und Gemeindepräsident folgen will oder nicht. Anderntags hat Vater am Frühstückstisch über die Versammlung berichtet.
swissinfo.ch: Gibt es etwas in Ihrem Selbstverständnis als demokratischer Politiker, das Sie spezifisch Ihrer Herkunft in den Bergen verdanken?
A.O.: Dazu vielleicht eine Anekdote: Als ich im Jahr 2000 zum zweiten Mal Bundespräsident war, entschied sich der Bundesrat zur Kandidatur des Gebietes Jungfrau/Aletsch als Unesco-Weltnaturerbe. Als ich die Bewerbung 2000 an der Unesco-Generalversammlung in New York dem damaligen Generaldirektor vortrug, einem Japaner, sprach ich an eine Wand. Ich änderte die Taktik und bot ihm an, dieses wunderbare Gebiet einen ganzen Tag lang mit einem Helikopter der Schweizer Armee abfliegen zu können. Ich war damals auch Verteidigungsminister. Da begannen seine Augen zu leuchten.
Nach dem Flug mit einer «Alouette» war er so begeistert, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis wir für dieses Gebiet diesen «Nobelpreis für Naturdenkmäler» erhielten. Den Erfolg brachte das Umschwenken auf die Methode «Chumm und lueg», «komm her und schaue selbst». Zu diesem «Anschauungsunterricht» hatte mich mein Vater inspiriert, als er mir die Bauten zur Bannung der Naturgefahren oberhalb des Dorfes zeigte, die er geleitet hatte. Das sind gelebte Erfahrungen, die mich geprägt haben.
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swissinfo.ch: Gibt es in Ihrer Heimatgemeinde noch genügend Personen, die sich für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen?
A.O.: Das hat sich zum Negativen verändert. An der letzten Gemeindeversammlung hat ein Mitglied des Gemeinderats demissioniert, ein Ersatz wurde noch nicht gefunden. Die Parteien und Gruppierungen hätten sich auf eine fähige Person einigen sollen, damit der Gemeinderat möglichst schnell wieder komplett ist.
Als ich als Bub in den 1950er-Jahren das politische Geschehen wahrzunehmen begann, war das anders. In Kandersteg gab es damals keine Parteien, aber es war politische Pflicht, dass man sich der Gemeinde, der Öffentlichkeit und dem Ort zur Verfügung stellt.
swissinfo.ch: Bis vor gut 20 Jahren waren Konsens und Konkordanz noch Maximen der Schweizer Politik. Wie hat Konsenspolitik funktioniert?
A.O.: Zu meiner Zeit in Bern war das Regieren noch einfacher. Das gilt auch für die Führung der SVP, deren Präsident ich auch war. Man hat den Konsens gesucht und Kompromisse geschmiedet. Im Parlament haben wir Parteipräsidenten uns immer wieder getroffen und gemeinsam nach Lösungen im Interesse des Landes gesucht. Das war nur möglich, weil wir auch zuhören und die Interessen der Partei zurückstellen konnten.
swissinfo.ch: Volksinitiativen sind zunehmend Wahlkampf-Lokomotiven. Gehört dieses Volksrecht reformiert?
A.O.: In der Politik gibt es Zeitfenster, die sich öffnen und schliessen. Für mich ist das Zeitfenster momentan zu, um am Initiativrecht herum zu schrauben. Wir haben andere Prioritäten: Nach dem 9. Februar braucht es eine Lösung mit der EU.
Adolf Ogi
1942 in Kandersteg im Berner Oberland geboren; Ausbildung mit Handelsdiplom abgeschlossen. Seit 1992 Kandersteger Ehrenbürger.
Von 1987 bis 2000 gehört Ogi der Schweizer Regierung an; Bundespräsident 1993/2000.
Danach wird Ogi «Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden» für die UNO (2001 bis 2007).
1979 gelingt dem politischen Newcomer für die Schweizerische Volkspartei (SVP) den Sprung in den Nationalrat. 1984 wird er Präsident der SVP.
Vor dem Eintritt in die Politik ist Ogi Generaldirektor der Intersport Schweiz Holding AG (Sportfachhandel).
Von 1969 bis 1981 amtiert er als technischer Direktor und Direktor des Schweizer Skiverbandes (SSV).
Schweizweit einen Namen macht er sich 1972 in Sapporo als Leiter der erfolgreichen Schweizer Delegation an den Olympischen Winterspielen (10 Medaillen – «Ogis Leute siegen heute!»).
swissinfo.ch: Müssten die Mechanismen der «Checks and Balances» zwischen Regierung, Parlament, Parteien, Wirtschaft, Verbänden und Gerichte gestärkt werden, um im Entscheidprozess Ausgleich, Augenmass, Stabilität und Kontinuität zu fördern?
A.O.: Ich stelle eine Tendenz zur Radikalität fest, nach links, aber, ich muss das sagen, vor allem nach rechts. Ich bin entschieden gegen jegliche Radikalität. Das Gemeinwohl, das Miteinander und das Lösungsorientierte sind momentan etwas vergessen. Es braucht in den Spitzen der Parteien und der Fraktionen Persönlichkeiten, welche diesen Trend wieder kehren.
Am 9. Februar haben die Stimmbürger mit dem Ja zur Initiative gegen Masseneinwanderung «denen in Bern gezeigt, wo Bartli den Most holt». Aber bei der Ecopop-Initiative war ich mir sicher, dass das Stimmvolk Nein sagt. Denn es ist so vernünftig, dass es nicht mit dem Feuer spielt und Errungenschaften der Schweiz aufs Spiel setzt. Das Nein vom 30. November ist eine Absage an radikale Lösungen und eine Rückkehr zu Vernunft und Weisheit.
swissinfo.ch: Aber das wiederholte Ja der Stimmbürger zu polarisierenden, schwer umsetzbaren Volksinitiativen drückt ein Misstrauen gegen die etablierte Politik aus. Wie das angeschlagene Vertrauen wieder zurückgewinnen?
A.O.: Diese Frage ist nicht zu beantworten, sie enthält nur die Hoffnung, dass dies gelingt. Mit Blick auf die anstehenden Verhandlungen mit der EU ist dieses Gelingen aber notwendig. Gibt es keine Einigung auf eine lösungsorientiere Position, wird es sehr schwierig.
Die Eidgenössischen Wahlen von Herbst 2015 werfen ihre Schatten voraus – der Wahlkampf reicht bis ins Parlament und auch schon in den Bundesrat. Danach bleibt der Regierung aber nur noch ein Jahr, um mit Brüssel über die Umsetzung der Initiative vom 9. Februar zu verhandeln. Das ist sehr, sehr kurz. Aber das Nein zu Ecopop und die Lage in einigen Ländern der EU punkto Einwanderung haben die Ausgangslage für die Regierung verbessert.
swissinfo.ch: Der Bundesrat muss in diesen hektischen Zeiten kühlen Kopf bewahren. Wie wichtig ist der Faktor Gelassenheit in der Politik, gerade nach einem Entscheid wie jenem vom 9. Februar?
A.O.: Gelassenheit, man könnte auch von Langsamkeit sprechen, hat uns immer ausgezeichnet und zu guten Lösungen geführt. Schnellschüsse sind in einer direkten Demokratie nicht gut. Wer zu forsch einsteigt, macht nicht unbedingt die besten Erfahrungen, wie Vergleiche zeigen.
In Bezug auf unsere Position zu Europa könnte man unsere Langsamkeit sogar als positiv bezeichnen. Wir sind nicht in die EU und den Euro-Raum, sind aber gut durch die Krisen der letzten Jahre gekommen. Wohlstand und Fortschritt seit 1848 verdanken wir zu grossen Teilen der Langsamkeit der direkten Demokratie. Wir sind vier Kulturen, vier Sprachen, 26 Kantone, rund 3000 Gemeinden, ein Volk, das seit 1848 in Frieden und Freiheit lebt – das ist Weltrekord und eine unglaubliche Leistung, die uns zu einem Vorbild für Europa macht.
swissinfo.ch: Inwiefern?
A.O.: 2000 nahm ich als Bundespräsident am EU-Gipfel in Nizza teil, zu dem die Schweiz eingeladen weil, weil wir im Bundesrat 1992 ein Gesuch um Aufnahme von Beitritts-Verhandlungen, Verhandlung. Nicht Beitritt, eingereicht hatten.
Die spitze Bemerkung Romano Prodis, des damaligen Präsidenten der EU-Kommission, die Schweiz sei immer nur auf Vorteile und Ausnahmen aus, erzürnte mich dermassen, dass ich meinen vorbereiteten Redetexte beiseiteschob. Ihm und den anderen erklärte ich dann die Schweiz und ihre direkte Demokratie. Und das nicht im trainierten geschliffenen Französisch, sondern im «Français Fédéral de Kandersteg». Am Schluss hat einer gesagt (Ogi nennt auf Nachfrage den Namen nicht): «Maintenant nous savons ce que nous devons faire – nous devons adhérer à la Suisse!» – «Jetzt wissen wir, was wir zu tun haben – der Schweiz beitreten». Und ein anderer, sehr wichtiger Staatsmann meinte: «Die Schweiz hat 1848 das getan, was wir heute in Europa mühsam zu erreichen versuchen – die Schweiz ist unser Vorbild!»
Ich war glücklich, denn unsere Message wurde verstanden. Niemand hat darüber geschrieben, denn ausser uns war niemand im Saal zugelassen. Dieses Verständnis war sicher mit ein Grund für die guten Beziehungen, welche die Schweiz bis heute zu Brüssel hat.
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