Transparenz in der Politikfinanzierung: Ein Balanceakt in Taiwan und in der Schweiz
Wer finanziert welche Politiker:innen und Parteien? Taiwan setzt auf strikte Bestimmungen und Kontrollinstrumente. Gleichzeitig wächst das Vertrauen in die Politik. Vorbildhaft für viele Länder? Doch die neue Offenlegungspraxis hat auch eine Schattenseite.
Chih-chiang Lo und Peifen Hsieh nutzen jede Minute, um mit potenziellen Wähler:innen in Kontakt zu treten. Der 54 Jahre alte Kandidat der konservativen KMT und die 37 Jahre alte Parlamentsanwärterin der liberaldemokratischen DPP treten seit Jahren im Da’an-Distrikt im Herzen der Hauptstadt Taipeh für lokale und nationale Ämter an.
Wer sie vor einem Urnengang in einer gutbesuchten Gasse trifft, wird mit kleinen Geschenken eingedeckt: Gesichtsmasken, Taschentücher, Ansteckknöpfe, Kekse und Wasserflaschen gehören heute zur «Ausrüstung» jeder Politikerin und jedes Politikers auf dem Inselstaat im Westpazifik.
Stimmenkäufe in der Anfangszeit von Taiwans Demokratie
Verschwunden hingegen sind die ebenso ominösen wie beliebten roten Umschläge, mit denen bis heute in grossen Teilen Ostasiens Geldbeträge verteilt werden. Während diese, auf Chinesisch als Hóngbāo bezeichnete, Tradition bis heute zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Schulabschlüssen oder der Geburt eines Kindes auch in Taiwan gepflegt wird, sind sie aus den Wahlkämpfen verschwunden.
Einst «überschatteten solche Stimmkäufe die erste Phase unserer Demokratie ab den ersten freien Wahlen im Jahr 1996″, sagt James Kan, Vizepräsident der unabhängigen Organisation Citizens Congress Watch (CCW) zu SWI swissinfo.ch.
«Ab Mitte der Nullerjahre änderte sich nach den ersten Machtwechseln auf nationaler Ebene die Haltung der wichtigsten Parteien zum Thema Transparenz in der Politikfinanzierung», sagt Kan, dessen Organisation seit der Gründung 2007 als eine Art Wachhund der taiwanesischen Demokratie fungiert.
«Wir sammeln Informationen zu allen wichtigen Politikerinnen und Politikern und weisen die Öffentlichkeit auf finanzielle Unstimmigkeiten und gebrochene Wahlversprechen hin», betont James Kan.
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Obergrenze für Spenden in Taiwan
Gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängigen Medien hat Kans CCW dazu beigetragen, dass Taiwan in den letzten zwanzig Jahren schrittweise seine Offenlegungsgesetze für die Politikfinanzierung verschärft hat.
«Unsere Gesetzgebung zur Politikfinanzierung bietet heute kaum noch Schlupflöcher für illegale Spenden», beteuert die Controllerin in der zuständigen Behörde, Chen Mei-Yen.
Das geltende taiwanesische Offenlegungsgesetz regelt nicht nur die Geldbeträge, ab welchen politische Spenden offengelegt werden müssen, sondern auch die Obergrenzen für Spenden. Die Berichterstattungspflicht beginnt bei Beträgen ab 10’000 Taiwan-Dollar, umgerechnet knapp 300 Schweizer Franken (CHF). Zum Vergleich: In der Schweiz liegt dieser Betrag 50 Mal höher, bei CHF 15’000.
Maximal darf eine einzeln spendende Person in Taiwan 100’000 Taiwandollar (also knapp CHF 3’000) für eine Kandidatin oder einen Kandidaten spenden. Die Schweiz kennt keine solche Obergrenze.
Dazu sagt der Schweizer Transparenz-Experte und Journalist Balz Oertli: «Obergrenzen haben ihre Vor- und Nachteile. Ein positiver Effekt könnte sein, dass sich die Rahmenbedingungen für alle angleichen. Besonders bei Abstimmungen kann es in der Schweiz gut vorkommen, dass sich eher kleine Interessengruppen mit budgetstarken, etablierten Parteien und Verbänden messen müssen.»
Geld allein gewinnt in der Schweiz keine Abstimmung
Anderseits lasse sich mit Geld allein noch lange keine Abstimmung gewinnen, relativiert Oertli gleich wieder: «Bei der RenteninitiativeExterner Link vom März zum Beispiel hat die Ja-Seite ein siebenmal grösseres Budget offengelegt als die Nein-Seite. Die Initiative wurde dennoch abgelehnt.»
Zudem sei eine Obergrenze in der Praxis sehr schwierig umzusetzen, unzählige Umgehungswege müssten ausgeschlossen werden. Balz Oertli ist Vorstandsmitglied der Organisation Lobbywatch und arbeitet als Journalist beim Recherchekollektiv WAV. Dieses betreibt das Onlinetool Das Geld + die PolitikExterner Link, wo die entsprechenden Daten aufbereitet sind.
«Transparenz ist essenziell», sagt Oertli, «Denn ohne Transparenz müssen wir einfach darauf vertrauen, dass sich alle an die gemeinsamen Spielregeln halten.»
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Vertrauen in Taiwan hoch dank Transparenz?
Mehr Transparenz trägt womöglich aber auch dazu bei, das Vertrauen in die Demokratie und Politik zu stärken. «Die Zahl jener, die unsere demokratischen Institutionen unterstützen, ist in den letzten Jahren gestiegen», betont CCW-Vizepräsident Kan.
Gemäss Studien des World Values Survey bekennen sich heute über 90% (+10% seit 2008) der Taiwaner:innen zur Demokratie; 84% (+5% seit 2008) befürworten gemäss Daten des Pew Research Center das Mehrparteiensystem des Landes. Diese Daten wurden mit wissenschaftlichen Methoden der Meinungsforschung erhoben.
Gleichzeitig sieht James Kan aber auch die Schattenseiten der Offenlegungspraxis: «Was wir und die Behörden publizieren, nehmen nicht nur unsere demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürger hier in Taiwan zur Kenntnis, sondern auch unsere Nachbarn in China.»
China machte Druck auf Präsidentschaftkandidat in Taiwan
Das bekommen laut James Kan vor allem jene Spender:innen und Kandidat:innen zu spüren, die in und mit China Geschäfte machen: «Ein prominentes Beispiel ist der Unternehmer Terry Gou, der seine Kandidatur für die Präsidentschaft wenige Wochen vor der Wahl auf Druck der chinesischen Steuerbehörden zurückgezogen hat.»
Dies, nachdem die taiwanesischen Finanzkontroll-Behörden Daten zum finanziellen Engagement des Foxconn-Gründers in der taiwanesischen Politik veröffentlicht hatten.
Darauf erhielten Foxconn-Firmen in China die Ankündigung einer «ausserordentlichen, sprich politisch motivierten Steuerprüfung», wie es der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats in Taiwan, Wellington Koo, Ende 2023 gegenüber Medien ausdrückte.
So bleibt die Offenlegungspraxis auf dem Inselstaat auch für Organisationen wie die Citizens Congress Watch ein Balanceakt. «Mit Blick auf die unfreundlichen Interessen Chinas können wir auch unsere Daten und Ergebnisse nicht einfach mit der breiten Öffentlichkeit teilen», räumt James Kan ein, «Gegenüber den Behörden und den hiesigen Parteien haben wir jedoch gute Kommunikationskanäle.»
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Wahlkampfgeschenke für maximal hundert Taiwan-Dollar
Dieses gegenseitige Vertrauen zeigt Wirkung: Noch vor kurzem hatten zivilgesellschaftliche Organisationen wie die CCW keinen Zugang zu den von Behörden der Finanzkontrolle gesammelten Daten. «Das hat sich geändert», betont Amtsleiterin Chen Mei-Yen, «Jetzt können akkreditierte Organisationen wie die CCW diese einsehen, bevor wir sie ein halbes Jahr nach einer Wahl veröffentlichen.«
Und im politischen Alltag zeigt sich der Respekt für die geltenden Bestimmungen auch im Kleinen: So dürfen Parteien und Kandidierende im Wahlkampf potenziellen Wähler:innen nur Geschenke im Höchstwert von hundert Taiwan-Dollar – weniger als drei Franken – verteilen, zum Beispiel Taschentücher oder Regenponchos.
Im Wahlkampfquartier der lokalen DPP-Kandidatin Peifen Hsieh wird zudem auf einer Spendenbox ausdrücklich auf die Maximalgrenze einzelner Spenden von 1’000 Taiwan-Dollar hingewiesen. Es steht auch, dass unabhängig von der Höhe der Spende höchstens zwei Gesichtsmasken mit dem Konterfei der Kandidatin mitgenommen werden dürfen.
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