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Trient und Südtirol auf dem Vormarsch

Ein wahrhaft souveränes Volk, das über Instrumente der direkten Demokratie verfügt und diese tatsächlich nutzen kann, wie zum Beispiel in der Schweiz: Dies streben die Bewegungen für "mehr Demokratie" in Italien an. Initiative für mehr Demokratie

In den italienischen Provinzen Trient und Bozen-Südtirol wird über eine stärkere Bürgerbeteiligung nach Schweizer Vorbild debattiert. Die Befürworter der "Initiative für mehr Demokratie" setzen grosse Hoffnungen auf ein Gutachten der europäischen Venedig-Kommission. Diese wird sich zu den konkreten Vorschlägen für mehr direkte Demokratie äussern.

Die Befürworter von mehr Bürgerbeteiligung in Italien halten die bestehenden Instrumente der direkten Demokratie für unzureichend. Sie orientieren sich am Schweizer politischen System, das der repräsentativen parlamentarischen Demokratie eine direkte Demokratie zur Seite stellt.

Nicht zufällig ist die autonome Provinz Südtirol die Wiege einer Bürgerbewegung, die mehr direkte Demokratie fordert. Denn diese Provinz befindet sich geografisch und kulturell nahe an der Deutschschweiz. Dank direkter Kontakte und kultureller Verbindungen zur Schweiz konnten neue Ideen Fuss fassen, die eine stärkere Bürgerbeteiligung an politischen Prozessen zum Ziel haben.

«Der Schweizer Nationalrat Andreas GrossExterner Link hat uns mit diesem Virus der direkten Demokratie angesteckt», sagt Stephan Lausch, Koordinator der «Initiative für mehr Demokratie»Externer Link. Die Diskussionen nach einer Rede des Schweizer Parlamentariers hätten in Bozen dazu geführt, dass eine Gruppe von Bürgern und verschiedene Organisationen 1995 damit begonnen hätten, Unterschriften für zwei Arten von Volksinitiativen zu sammeln.

Zum einen geht es um die Einführung einer gesetzgebenden Volksabstimmung auf regionaler Ebene, im Weiteren um die Möglichkeit, die Gemeindestatuten per Volkentscheid ändern zu können. Der erste Vorschlag erhielt eine Mehrheit im Regionalrat, allerdings verweigerte die italienische Zentralregierung ihre Zustimmung.

20 Jahre nach den ersten Anstrengungen, die Volksrechte und die direkte Demokratie zu stärken, haben die Aktivisten aus Südtirol und der Provinz Trient einige Erfolge erzielt, doch nicht alle ihre Forderungen sind in Erfüllung gegangen. Fortschritte haben sich vor allem in der Kommunalpolitik eingestellt.

Unabhängige Stellungnahme

Ein entscheidender Impuls könnte in der Provinz Trient am 27. Mai kommen. An diesem Tag wird eine Delegation mit Repräsentanten des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erwartet.

Volksinitiative

In Italien existiert die Volksinitiative als ein Gesetzesvorschlag, der von einem Bürgerkomitee eingereicht wird. Über diese Initiative kann beratend oder parlamentarisch abgestimmt werden. Es ist keine Volksabstimmung vorgesehen.

Dieses Verfahren gibt es auf der Ebene der Gemeinden, Provinzen, Regionen sowie auf nationaler Ebene.

National sind 50’000 Unterschriften nötig, damit ein Anliegen der Legislative unterbreitet wird. Auf den untergeordneten Ebenen (Gemeinde, Provinz, Region) steht die Zahl der nötigen Unterschriften in einem prozentualen Verhältnis zur Anzahl der Wahlberechtigten.

Die Venedig-KommissionExterner Link (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) war angerufen worden, um einen unabhängigen juristischen Standpunkt zu einem Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der das Quorum abschaffen und eine verbindliche Volksinitiative einführen will. Diese Initiative war im Juli 2012 vom Komitee «Mehr Demokratie im Trentino»Externer Link deponiert worden.

«Die Regierung hat den Volksvorschlag vom Kopf auf die Füsse gestellt: Von 50 Artikeln wurden 39 gestrichen und 10 ausgewechselt. Nur ein Artikel ist geblieben», ereifert sich Alex Marini vom Vorstand «Mehr Demokratie im Trentino».

Falls sich die Venedig-Kommission für das Volksbegehren aussprechen sollte, wäre dies ein wichtiger Sieg für die Bewegung «Mehr Demokratie». Sie könnte erneut im Rat der Provinz vorstellig werden. Zudem hätte dies Auswirkungen auf die Provinz Südtirol, wo im März der Vorschlag für eine Volksinitiative abgelehnt wurde.

«Die beiden Gesetzesentwürfe sind sich sehr ähnlich. Darum stellt die Bewertung der Initiative von Trient auch eine Bewertung der Initiative von Bozen dar», betont Lausch. Die Regierung dürfe dies nicht ignorieren. Im Herbst wolle sie ihren eigenen Vorschlag vorlegen.

Autonomie und Sonderstatut

Marini ist optimistisch in Bezug auf die Stellungnahme der Venedig-Kommission, befürchtet aber gleichwohl, dass die Politik sich den Empfehlungen entziehen und Widerstand leisten könnte.

«Wir haben eine dekadente politische Klasse, die ihre Macht keinesfalls mit den Bürgern teilen will», doppelt Lausch nach. Das italienische Politiksystem habe sich dermassen abgeschottet, dass die Bürger keine Chancen hätten, dieses in irgendeiner Weise zu verändern.

Gegen Quorum

Alle Bewegungen in Italien, die sich für mehr Direktdemokratie einsetzen, verlangen in allererster Linie eine Abschaffung des Quorums. Das Quorum legt fest, wie viele Stimmbürger mindestens abstimmen müssen, damit ein Begehren Gültigkeit hat.

Die Gegner des Quorums argumentieren, dass im Prinzip diejenigen entscheiden, die nicht an die Urne gehen, während der Wille der effektiv stimmenden Bürger nicht berücksichtigt wird.

Ein Paradebeispiel für diesen Mechanismus ist die Volksabstimmung in der autonomen Provinz Bozen-Südtirol von 2009, als 83,2% der Stimmenden einer Volksinitiative zur Ausweitung der Volksrechte zustimmten. Doch das Abstimmungsergebnis wurde für ungültig erklärt, weil die Beteiligung bei nur 38,1% lag. Das Quorum betrug 40%.

Alex Marini und Stephan Lausch anerkennen allerdings, dass dank der Verfassungsreform von 2001 in den beiden Provinzen Trient und Südtirol sowie in vier weiteren Regionen mit Sonderstatut – Friaul, Aostatal, Sardinien, Sizilien – ein Meilenstein erreicht wurde: In der Verfassung wurde der Auftrag festgehalten, Instrumente der direkten Demokratie zu schaffen. Darunter das Referendum (Volksabstimmung nach einem erfolgten Entscheid), eine Volksinitiative (mit Vorschlagsrecht) und eine beratende Volksinitiative.

Bei der Umsetzung lief diese Verfassungsnorm aber dann auf Grund, beispielsweise wegen bürokratischer Hürden bei der Unterschriftensammlung, einem zu hohen Quorum für das Zustandekommen einer Volksinitiative sowie einem Boykott der Volksinitiativen durch die Räte in den Provinzen. «So wurden diese Instrumente neutralisiert», klagt Marini.

Hoffnung in den Gemeinden

Trotz dieser Rückschläge geben die Initianten nicht auf. In Erwartung der Empfehlung der Venedig-Kommission gehen in beiden Provinzen die Initiativen für mehr Direktdemokratie auch auf anderer Ebene weiter. So müssen die Gemeinden sich beispielsweise Verordnungen anpassen, die der Regionalrat Trient-SüdtirolExterner Link zur Verbesserung der direktdemokratischen Instrumente auf Kommunalebene erlassen hat.

So verlangte «Mehr Demokratie» anlässlich der Gemeindewahlen vom 10. Mai, eine Verpflichtung zu unterschreiben, um mehr Direktdemokratie umzusetzen. In der Provinz Bozen-Südtirol sandte die Initiative «Mehr Demokratie» an alle Bürgermeisterkandidaten einen Fragekatalog mit 14 Fragen.

Einige Gemeinden haben in dieser Hinsicht schon grosse Fortschritte gemacht. Ein Dutzend Gemeinden im Südtirol schaffte beispielsweise das Quorum ab. Und weitere Gemeinden könnten diesem Beispiel folgen. Dies dürfte auch die Provinz Südtirol beeinflussen.

Nach 20 Jahren Einsatz für mehr direkte Demokratie ist Lausch nur verhalten optimistisch: «Es wurden einige Schritte in die richtige Richtung gemacht. Aber es geht alles sehr, sehr langsam.»

Doch vielleicht beschleunigen sich die Prozesse auch. Zumindest macht das Beispiel aus dem Trentino Mut. Dort wurde das Komitee erst vor vier Jahren gegründet und hat bereits einiges erreicht. «Es ist ein junges, aber vielversprechendes Phänomen», hält Marini fest.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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